Die britische Alternative-Rock Band Placebo hat sich nun ans Kultformat MTV Unplugged gewagt. Der Mut, sich radikal neu zu erfinden, führt zu einer musikalischen Wiedergeburt.
Diese Platte ist Muss und Risiko zugleich. Ein Muss für alle Fans und LiebhaberInnen und ein Risiko für alle, die Placebo nicht kennen. MTV Unplugged ist ein bewährtes Kultformat, das mit Paul McCartney seinen Anfang nahm und inzwischen zahllosen internationalen KünstlerInnen die Möglichkeit gegeben hat, sich im reduzierten musikalischen Setting (ohne Einsatz von elektronischen Instrumenten), oft in besonderen Locations, neu zu erfinden.
Insofern ist auch Placebos Unplugged Platte nicht einfach stringente Fortsetzung ihres Gesamtwerks, sondern vielmehr ein Experiment. Nach sieben Studioalben und über 12 Millionen verkauften Tonträgern, ging es der Band nicht darum Altbewährtes und –bekanntes zu reproduzieren, sondern „die akustische und eher experimentelle Seite unserer Musik genauer zu erforschen und einige Stücke zu spielen, die wir so noch nie auf die Bühne gebracht hatten“, so Sänger-Gitarrist Brian Molko. Neu sind auch der Schlagzeuger Matt Lunn (nachdem Steve Forrest die Band 2015 seiner Solokarriere wegen verlassen hat), ein Dutzend anderer GastmusikerInnen und Arrangements mit ungewöhnlichen Instrumenten. Die Vorbereitung lief mehrere Monate, in denen die Band immer wieder an ihren Stücken „herumgebastelt“ hat, um sich dann schließlich während der Unplugged Aufnahme der Experimentierfreude und der Stimmung des Augenblicks zu überlassen. Das ist ein gewagter Schritt aus der eigenen Komfortzone in musikalisches Neuland. Quasi die höhere Schule der musikalischen Selbstfindung. Insofern auch eher für Fortgeschrittene und Fans geeignet. Je besser man die Band, deren Musik und Werdegang kennt, desto mehr kann man auch mit ihren neu vertonten Liedern anfangen.
Bei machen Tracks stimmt einen die Entfremdung der altbekannten Lieder allerdings fast etwas wehmütig. Das Rockige, das Lasziv-Abgefuckte, das Placebo ausmacht, fehlt etwas. Die Musik wird radikal entschleunigt und dadurch stellenweise zu handzahm, zu streichelweich. Bei Hold On To Me oder bei Without You I’m Nothing, etwa. Manchmal entsteht dann aber auch wieder was richtig Schönes wie bei Placebos Kultlied „Every You Every Me“ featuring Majke Voss Romme (aka Broken Twin). Der Trick ist, die altvertrauten Lieder nicht gegen die neuen, die erst im Zuge des Konzerts entstehen, auszuspielen. Darunter sind auch einige Lieder, die schon lange nicht mehr (36 Degrees) oder sogar noch nie live gespielt wurden (Bosco).
Unterm Strich gelingt das Experiment – das was hier entsteht ist sehr lebendig, authentisch und stimmungsvoll. Brian Molkos Stimme ist die Konstante, die wie ein roter Faden die einzelnen Tracks miteinander verwebt und zusammenhält. Er führt durch den Abend, ordnet die Songs und musikalischen Besonderheiten ein, wie etwa das arabische Qanun bei Post Blue. Die Stimmung ist intim, als säße man selbst in den dunklen London Studios, mitten in der Stadt, in der Placebo vor zwanzig Jahren ihr allererstes Konzert gaben. Auch die visuellen Effekte tauchen die Band buchstäblich in ein neues Licht und untermalen gleichzeitig effektvoll die Musik.
Am besten man hört sich die Platte das erste Mal ohne Unterbrechungen und im Dunkeln an und freut sich daran, einer Band dabei zuzuhören, wie sie sich selbst neu erfindet. Wie viel Überwindung oder Anstrengung das die Band auch gekostet haben mag, hört man an der Erleichterung in Brian Molkos Stimme, als er sich mit dem Satz: „Es war eine furchterregende, aber wundervolle Nacht für uns“, verabschiedet. Möge es nicht die letzte gewesen sein.
Von Dorina Marlen Heller
Tracklist:
Jackie
For What It’s Worth
36 Degrees
Because I Want You
Every You Every Me (feat. Majke Voss Romme AKA Broken Twin)
Song To Say Goodbye
Meds
Protect Me From What I Want (feat. Joan as police woman)
Loud Like Love
Too Many Friends
Post Blue
Slave To The Wage
Without You I’m Nothing
Hold On To Me
Bosco
Where Is My Mind?
The Bitter End
Der Klassiker Meds beim MTV Unplugged Konzert