Gregor Gysi war kompromissloser Oppositionsführer, bis er vom Fraktionsvorsitz der Linken zurücktrat. Ein Gespräch über Motivation, Ängste und (un)politische Studenten.
Er gilt als der eloquenteste Redner im Bundestag. Als Schirmherr des Heidelberger Symposiums hält Gregor Gysi den Eröffnungsvortrag. Er ist – wie immer – lässig, selbstbewusst und redet geschliffen. Seiner Wirkung auf das Publikum ist er sich bewusst. Während seines Vortrages bekommt er spontanen Applaus für knackige Formulierungen, dennoch sind seine Thesen umstritten. Nach dem Vortrag beantwortet er unsere Fragen.
Was ist Ihr Antrieb, jeden Morgen zur Arbeit zu gehen?
Gregor Gysi: Wenn ich nur zuhause säße, würde ich mich langweilen. Also ist es auch ein Stück Bedürfnisbefriedigung, beschäftigt zu sein, etwas zu machen, wo man den Eindruck hat, dass es sinnvoll sei. Das ist mein wesentlicher Antrieb. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich fallen zu lassen. Sich mal fallen zu lassen ist schön, aber wenn du dich täglich fallen lassen musst, bereitest du dich auf den Tod vor.
Dann ist in Rente gehen also keine Option für Sie?
Doch, aber man muss Aufgaben finden. Die, die nichts finden, sind unglücklich. Da mache ich mir aber keine Sorgen. Als ich vom Fraktionsvorsitz zurücktrat, dachte ich: Erstens werde ich ein Stück Verantwortung los und das genieße ich. Das zweite, dass ich mehr Zeit haben werde – das war ein Irrtum. Alle denken, ich hätte mehr Zeit, deshalb bekomme ich doppelt so viele Angebote und ich bin ein grottenschlechter Nein-Sager, das ist eine ganz unglückliche Mischung.
Was ist für Sie der Antrieb, Politik zu machen?
Der Antrieb war ursprünglich, die DDR zu verändern. Als ich merkte, dass mit Gorbatschow diese Möglichkeit entstand und die SED-Führung sich dagegen wehrte, wurde ich immer politischer, ich dachte: Jetzt kann man hier endlich Reformen durchführen. Auf meinem Gebiet des Rechts, aber auch in Fragen der Demokratie und Wirtschaft. Das war mein erster Antrieb in der Politik. Der zweite Antrieb war, als die Einheit kam und ich wusste, dass größere Teile der Bevölkerung ohne meine Partei nicht vertreten werden würden. Da habe ich wie ein Anwalt gedacht: Das übernimmst du! Das dritte war dann 2005: Plötzlich gab es die Chance, eine Partei links von den Sozialdemokraten zu schaffen, die zum respektierten demokratischen Spektrum der Gesellschaft gehört und eine Chance hat, dauerhaft mitzuwirken. Das war vor 1990 in der alten Bundesrepublik vollkommen undenkbar.
Warum finden so wenige junge Menschen, gerade auch Studenten, den Antrieb, Politiker zu werden?
Das hat mehrere Gründe: Erstens ist der Beruf im Verhältnis zu anderen Berufen nicht immer gut bezahlt. Das ist aber nicht das Entscheidende: In der Politik stehst du unter permanenter öffentlicher Kontrolle und wirst dafür auch noch beschimpft, du erntest harsche Kritik. Bei Frau Maischberger habe ich gegen Frau von Storch von der AfD gesprochen – die Briefe, die ich von ihren Anhängern bekommen habe! Kritik kann man gar nicht mehr dazu sagen. Das schreckt ab.
Wie könnte man Studenten motivieren?
Die Politik ist ein unsicherer Faktor. Wenn Sie Arzt sind, eine eigene Praxis haben und Gesundheitspolitik machen wollen, und dann nach vier Jahren wieder abgewählt werden, müssen Sie ihre Praxis neu aufbauen. Das ist ein Vorteil für Beamte: Wenn die in den Bundestag kommen, müssen sie danach wiedereingestellt werden. Für einen Arbeitslosen wäre das eine traumhafte Chance, aber wer stellt ihn auf?
Viele studieren ja BWL, das macht man doch, wenn einem nichts einfällt – solchen Leuten empfehle ich das einfach mal zu probieren. Ich finde es gut, wenn junge Leute in den Bundestag kommen, aber sie sollten dort höchstens zwei Legislaturperioden bleiben und dann etwas Anderes machen.
Wie schaffen Sie es, sich als Politiker sachlich zu informieren?
Als Bürgermeister und Senator hatte ich einen Arbeitstag von neun Uhr morgens bis nachts um zwei Uhr. Einschließlich Samstag. Da ist man froh, den Alltag zu schaffen. So kommt man nicht dazu, Reformen zu machen. Da hatte ich eine Idee, um Verfahren zu beschleunigen: Wenn man die Genehmigungsverfahren nicht ändern kann, muss man am Recht etwas drehen. Jeder Antrag, der innerhalb von vier oder sechs Wochen nicht durch das Amt schriftlich abgelehnt wird, gilt als genehmigt. Dann kann eine Bürgerin oder ein Bürger oder ein Unternehmen einfach einen Antrag stellen und abwarten. Das wäre eine Umkehrung des heutigen Rechts.
Wäre das auch ein Modell für die Asylanträge?
Da ist es schwieriger, weil man viele Fragen prüfen muss. Beim Asylrecht ist alles noch nicht richtig durchgestrickt, das Asylsystem ist von dem Gedanken geprägt, etwas zu verhindern, das du nicht verhindern kannst und man will ja auch nicht völlig inhuman sein. Deswegen ist das Votum für sichere Drittstaaten so schwierig, weil man dahin die Leute zurückschicken will. Übrigens: Auch das muss man bezahlen!
Wir sehen ein weiteres Problem für junge Leute in der Politik: Man unterstellt Politikern oft Unglaubwürdigkeit.
Da stimme ich Ihnen zu. Viele Politiker geben Motive an, welche nicht ihre wahren sind. Zu Angela Merkel gab es mal ein höheres Vertrauen als zu anderen Kanzlern, das hat sie aber kaputtgemacht durch Anbiederung an und den Deal mit der Türkei mit Erdoğan. Die Flüchtlingsfrage auf dem Rücken des wirtschaftlich schwächsten Mitglieds der EU, Griechenland, und der Türkei lösen zu wollen, das nehmen ihr die Leute nicht ab. Das zerstört Vertrauen.
Die katholische Kirche hat das sehr geschickt gemacht: Die war auf einem schweren Abwärtstrend durch die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern. Und dann wählen die Kardinäle Franziskus, ganz bewusst! Sie wussten: Wenn sie einen wählen, der bescheiden ist und sich öffnet, der das erste Treffen seit 1088 Jahren mit dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche auf dem Flughafen von Havanna realisiert. Vor zehn Jahren hätte ich das für einen absoluten Scherz gehalten. Durch diesen einen Mann ist die katholische Kirche auch gerettet worden. Das brauchen wir auch in der Politik.
Wer könnte das in der deutschen Politik machen?
Niemand. Leute, die so sind, sind nicht in der Politik. Weil die Struktur der Politik dagegenspricht. Da muss man sich durchbeißen. Normalerweise muss man sich über die Jungsozialisten, die Junge Union, die Jungen Liberalen hocharbeiten, sich anbiedern. Das war früher anders und ist jetzt furchtbar! Ich bin froh, dass ich diesen Weg nicht gehen musste.
Inwieweit ist es die Aufgabe der Universitäten, Studenten auf die Politik vorzubereiten?
Die Universitäten und Hochschulen sind zu verschult. Das gefällt mir überhaupt nicht. Früher waren die Studierenden rebellischer und haben deutlicher über ihren Tellerrand geblickt. Heute studieren die meisten und wissen schon, was sie werden wollen. Das war früher anders. Zunächst dachte ich, dass Bachelor und Master eine gute Idee sind, weil sie internationalen Austausch fördern, jetzt hat es sich als Verschulung herausgesellt. Das ist das eine Problem.
Zweitens: Die Universitäten müssen in der Lage sein, einen kritischen Geist zu pflegen. Sie müssten mehr in Frage stellen. Die Studierenden müssten politisch interessierter die Universität verlassen. Das heißt nicht, dass sie unbedingt in die Politik gehen sollen. Wichtig ist, dass man sich mit den Vorgängen beschäftigt und verstehen will, warum etwas wie entschieden wird. Wichtig ist aber auch, dass sie ihr Studium so gut absolvieren, dass sie zusammen mit Lebenserfahrung erfolgreich im Beruf sein können.
Denken Sie, dass eine studentische Rebellion noch möglich ist?
Ja, aber es genügte ja schon, wenn wieder ein bisschen mehr rebellischer Geist in den Universitäten entstünde. Die Studierenden müssen wieder Fragen stellen: Wieso sterben jährlich 18 Millionen Menschen an Hunger, obwohl wir eine Landwirtschaft haben, die alle Menschen zweimal ernähren könnte? Warum?
Darüber denken Studenten doch nach!
Ja, aber sie ziehen es dann auf das Individuum zurück. Die Frage ist: Was muss ich an den Strukturen ändern, um den Hungertod zu verhindern? Wieso verkaufen wir billig Lebensmittel nach Afrika und verhindern, dass dort eine eigene Landwirtschaft entsteht? Solche Fragen müssen wir uns stellen! Und dann muss man auch etwas organisieren.
Nennen Sie bitte ein Beispiel einer Struktur an den Universitäten, die man ändern müsste.
Das wichtigste ist die Finanzierung. Ich möchte, dass alle Studierenden ein Stipendium erhalten, das reicht, um zu leben. Damit kann man ihnen ermöglichen, sich Zeit für das Studium zu nehmen. Wenn sie nebenher arbeiten müssen, haben sie die Zeit nicht. Wichtig wäre es auch, dass die Dozenten und Assistenten richtig angestellt sind. Mit befristeten Arbeitsverträgen schafft man keine ausreichende Motivation. Sie brauchen eine Perspektive, um sich intensiver um Forschung und Lehre kümmern zu können. Ein bisschen mehr soziale Sicherheit würde die Universitäten sehr fördern.
Zum Individualismus: Glauben Sie, dass man eine Gesellschaft durch sein Kaufverhalten ändern kann?
Ein bisschen schon, aber nur, wenn man nicht permanent auf Reklame reinfällt. Die Unternehmen richten sich auch nach den Konsumenten. Aber man darf es nicht überschätzen, ärmere Teile der Bevölkerung können sich das nicht leisten. Die werden immer das Billigste nehmen.
Scheitern die Linken gerade? Bei der aktuellen Vermögensungleichheit müssten die Linken sehr erfolgreich sein.
Zumindest müssten sie die Hauptauseinandersetzung führen. Man muss als Partei ein Thema besetzen können, wie die Grünen früher in der Ökobewegung. Oder so wie die AfD die Flüchtlingsfrage besetzt. So muss die Linke die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit besetzen. Das macht sie zurzeit zu wenig erfolgreich.
Kann die Linke sich etwas von der AfD abschauen? Etwa die mediale Aufmerksamkeit?
Ich glaube, es gibt in den Medien viele, die die AfD nicht so schlecht finden und sie deshalb zu jeder zweiten Talkshow einladen. Das Schlimme ist ja, dass sie nur zu Flüchtlingen befragt werden. Sie müssen sich mal die anderen Sachen, wie die Steuerpolitik, von ihnen anschauen. Abenteuerlich! Das nehme ich den Medien übel. So hätten sie meine Partei nie bedient, wenn sie nicht im Bundestag wäre.
Welche Rolle spielen abstrakte Ängste in der Politik?
Eine große! Konkrete gibt es wenige. Die Angst vor Muslimen ist häufig eine abstrakte Angst. Dort wo keine Muslime leben, wählen die Menschen eher rechtsextrem, dort wo sie leben nicht.
Das liegt auch am Fernsehen, wenn man dort Araber sieht, schreien Sie entweder ganz laut nach Allah oder sprengen sich gerade in die Luft. Dieses Bild ist sehr einseitig geprägt.
Was kann man gegen abstrakte Ängste tun?
Aufklären. Das ist das große Versagen von Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur, Wissenschaft, Gewerkschaften und Kirchen. Alle haben zu wenig aufgeklärt. Abstrakte Ängste muss man schon in der Schule abbauen. Da muss beispielsweise erklärt werden, was der muslimische Glaube ist.
Noch etwas Persönliches: Welchen Ministerposten hätten Sie am liebsten?
Gerade gar keinen. Sonst am liebsten Außenminister. Mich interessiert Außenpolitik und man kann wirklich Dinge erreichen. Und sie sind immer die beliebtesten (lacht).
Das Gespräch führten Simon Koenigsdorff und Dominik Waibel.