La Bohème zählt mit Tosca und Madame Butterfly zu den bekanntesten und seit mehr als hundert Jahren erfolgreichsten Opern des italienischen Komponisten Giacomo Puccini. Doch die neue Inszenierung im Heidelberger Theater strebt über eine konventionelle Neuauflage dieses Klassikers hinaus – gerade die Zeitlosigkeit der Handlung steht im Vordergrund. So entfaltet sich ein rasantes Spiel aus Schein und Sein, Anspruch und Wirklichkeit, bei dem nicht zuletzt der Zuschauer einen Spiegel vor Augen gehalten bekommt.
Dass Opernhandlungen nicht immer den höchsten Ansprüchen innovativer Plotgestaltung genügen, dürfte inzwischen leidlich bekannt sein. Auch Puccinis Bohème macht hier auf den ersten Blick keine Ausnahme: Vier Bohémiens, (Lebens-)Künstler vom Beruf Dichter, Maler, Musiker und Philosoph, leben mit wenig Geld in der Tasche und immer auf der Suche nach neuer Abwechslung in den Tag hinein. Und doch ist ihr Leben leer und nichtig. In einer endlosen Reihe von Selbstdarstellung und Oberflächlichkeit verstecken unsere vier Helden ihr eigentliches Ich. Keine Bindung ist ihnen geheuer, das Leben ist nur ein großer Spaß – in dieser überdrehten Welt werden ein Poet mit Schreibblockade, ein Maler in der Schaffenskrise, ein Philosoph ohne Weisheit sowie ein Kanarienvogel meuchelnder Musiker zum verkannten Genie.
Im Verlauf der Oper wächst die Gruppe um zwei weitere Personen an: Die Blumenverkäuferin Mimì liebt Rodolpho, der das erste Zusammentreffen ebenso postwendend wie erfolglos in einen One-Night-Stand umzuwandeln sucht. Wider eigenen Willen verliebt sich so auch Rodolpho in die schöne Nachbarin. Doch Mimì ist sterbenskrank und Rodolphos locker-leichtes Dasein droht mit ihr in den Abgrund zu stürzen.
Auch Rodolphos engster Freund Marcello findet sich im Lauf der Oper zum wiederholten Mal mit seiner kapriziösen (Ex)Freundin Musetta zusammen und verlebt mit ihr eine mal mehr, mal weniger stabile Beziehung.
Die Inszenierung der Regisseurin Andrea Schwalbach bricht hier bewusst mit den Konventionen. Während das erste Kennenlernen üblicherweise als einseitig von Rodolpho betriebene Verführung dargestellt wird, zeigt Schwalbach ein reziprokes Spiel von Verführen und Verführtwerden. So inszeniert sie die beiden Frauenfiguren nicht antagonistisch, sondern deutet sie vielmehr als verschiedene – und höchst moderne – Wege zum gleichen Ziel: Zwei selbstbewusste, emanzipierte Frauen auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück.
Dies gelingt ihr im Falle Mimìs ausgezeichnet und wird unterhaltsam in die Gesamthandlung eingebettet. Musetta dagegen bleibt über weite Teile der Oper blass und kommt mit Ausnahme des vierten Bildes nicht wirklich über ihre doch recht undifferenzierte Rolle des „Flittchens“ hinaus – hier wäre sicherlich mehr möglich gewesen.
Wer eine klassische Inszenierung der Bohème sucht, wird mit der Heidelberger Version kaum glücklich werden. Bühnenszenerie und Kostümierung sind im Pop-Art-Stil gehalten und auch die inhaltliche Deutung der Protagonisten wird in einigen Aspekten abseits des konservativeren Mainstreams geführt. Wer allerdings bereit ist, sich auf ihre Interpretation einzulassen, wird mit einem grandiosen Spiel auf vielfacher Ebene belohnt.
Puccinis Musik arbeitet dem Bühnengeschehen zu. Wild aufpeitschend treibt sie die Sänger zu immer neuen Höhen, lässt sie in Liebe zergehen, führt sie in tiefste Verzweiflung. Doch gibt es trotz aller Massivität der (blechblasgetränkten) Emotion auch die kleinen, feinen Momente – und gerade hier vermag die Musik am nachhaltigsten zu berühren.
Auch die Darstellenden wissen nahezu durchweg zu gefallen. Gerade Hye-Sung Na (Mimì) und Andrea Shin (Rodolpho) sorgen in den Titelpartien vielfach für Gänsehaut-Momente. Verzweifelt liebend singen sie sich dem Abgrund entgegen und lassen hierbei besonders in den leisen Momenten die Zuschauer tiefer in die Seelen und Gefühle ihrer Charaktere eindringen, als dies jeglicher Inszenierung möglich wäre.
Das Orchester unter der Leitung von Gad Kadosh spielt den hochemotionalen Stoff überwiegend souverän und untermalt die Darbietung auf der Bühne auf den Punkt. Lediglich an einigen Stellen könnte das Zusammenspiel zwischen Sängern und Orchester noch etwas synchroner vonstattengehen.
Selbstdarstellung, Selbstoptimierung, der in reine Oberflächlichkeit verkommene Wettstreit mit dem eigenen Umfeld. Puccini zimmert eine Oper um Themen, die wohl nie an Aktualität und Brisanz verlieren werden.
Für seine Bohèmiens wird im Angesicht des unabwendbaren Todes alle Verstellung obsolet, alles Verstecken hinter leeren Masken sinnlos. Die scheinbare Tragödie wird so zu einem nicht nur musikalisch tief bewegenden Appell für wahre Menschlichkeit, bei dem man als Zuschauer letztlich nicht mehr genau weiß, ob man noch Betrachter oder schon Teilhaber des Geschehens ist.
Von Jakob Bauer