Für viele gehört er zum Feiern dazu, doch andere stellt er vor lebenslange Herausforderungen. Eine Begegnung mit den Anonymen Alkoholikern
[dropcap]Als[/dropcap] ich das weiße Gebäude in der Plöck betrete, weiß ich nicht, was ich erwarten soll. Nervös stehe ich im Flur, während mir alle Zahlen und Fakten durch den Kopf gehen, die ich im Laufe meiner Recherche gesammelt habe. Seufzend stelle ich fest, wie wenig Nutzen sie hier finden werden. Es dauert nicht lange, bis uns drei Frauen entgegenkommen. Erst, als ich in die freundlichen Gesichter von Sabine, Ulrike und Sophie schaue, merke ich, wie sich ein Bild in mir auflöst, von dem ich fest überzeugt war, das ich es gar nicht erst gezeichnet hatte: Das Bild eines Alkoholikers.
Den Drogenbeauftragten der Bundesregierung zufolge konsumieren 9,5 Millionen Menschen in Deutschland Alkohol in riskantem Ausmaß – der tägliche Konsum von mehr als 12 Gramm für weibliche oder 24 Gramm Reinalkohol für männliche Erwachsene. Als „Alkoholabhängige“ müssen 1,3 Millionen mit den Folgen der Krankheit leben. „Wenn ich nicht getrunken habe, war ich leicht irritierbar, depressiv und einfach nur ein Albtraum“, erzählt mir Sophie später.
Vor knapp einem Jahr gründeten die drei eine Initiative der Anonymen Alkoholiker (AA) in Heidelberg – getreu nach dem Modell des amerikanischen Börsenmaklers Griffith Wilson und dem Chirurgen Robert Hilbrook Smith. 1935 entwarfen die selbst erklärten Alkoholiker das Konzept der AA in Ohio. Kurze Zeit später folgte das berühmte „12 Punkte Programm“, das dem Kranken zur Genesung verhelfen soll. Nach wie vor werden abgewandelte Versionen für „A-Gruppen“ anderer Suchtprobleme verwendet. „Durch das Programm habe ich etwas erlebt, was ich auch gerne in der Stadt haben wollte, in der ich wohne“, erklärt Sophie ihre Motive abschließend.
Wir gehen in den nächsten Raum, in dem alle Stühle sorgsam aufgestellt sind. Wie einstudiert nimmt jeder seinen Platz ein: Sabine vorne am Pult, Ulrike in der ersten Reihe, Sophie direkt vor mir, ich ganz hinten. Für ein paar Momente ist es still. Plötzlich erscheint ein attraktiver Mann in seinen Dreißigern an der Tür und schaut zögerlich in die Runde. Sophie reicht ihm sofort die Hand. „Álvaro[1]“, stellt sich der Neuankömmling schüchtern vor, bevor auch er seinen Platz findet – linker Rand, vorletzte Reihe. Nachdenklich klammere ich mich an meine heiße Kaffee-Tasse, als Sabine das Meeting beginnt. „Ich bitte darum, eure Störungen auf minimalem Level zu halten“, schließt sie freundlich ab. Ich führe die Tasse zu meinen Lippen und entscheide mich im letzten Moment doch dagegen: Zu unangenehm ist mir das Risiko, diese ruhige und doch angespannte Stimmung zu behindern – oder gar den Eindruck zu erwecken, sie nicht ernst genug zu nehmen.
In der Bundesrepublik sterben jährlich 74 000 Menschen an den Folgen eines direkten oder indirekten Alkoholmissbrauches. Von Leberzirrhose bis Pankreas-, Speiseröhren- oder Magenkrebs riskiert man bei exzessivem Trinkverhalten seine Gesundheit: „Es gibt fast kein Organ, das nicht betroffen ist“, erklärt Haang Jeung, Ärztin der Suchtberatung Heidelberg.
Dankend nimmt Ulrike das Blaue Buch – die von den Gründern verfasste „Bibel“ der AA – der heutigen Sitzungsleiterin ab, schlägt es auf und atmet tief ein. „Mein Name ist Ulrike und ich bin Alkoholikerin.“ – „Hallo, Ulrike“, ertönt es augenblicklich von den anderen wider. „Alkoholismus ist eine Krankheit“, liest Ulrike vor. „Es ist, als ob wir unsere Beine verloren haben. Und Beine wachsen nicht nach.“ Es folgt eine Liste mit Aktivitäten zur Ablenkung und Besänftigung: Sich vornehmen, nur auf Bier umzusteigen, sich vornehmen, nur auf Partys zu trinken, in ferne Länder verreisen, zuhause bleiben. Bei dem Punkt „ein gutes Buch lesen“ lacht Sophie kurz auf. Der Rest schweigt.
Es ist, als ob wir unsere Beine verloren haben
Wie jeder andere Krieg verlangt auch die Konfrontation mit der eigenen Sucht Blut und Opfer; den Schlachten stellt man sich durch das einfache Aufstehen am Morgen. Und nicht jede gewinnt man: „Während anderer Therapien habe ich auf der Parkbank vor der Klinik gesessen und Alkohol getrunken“, gibt sie zu. „Und dann war alles wieder okay. Es ging da nicht mehr um Party oder soziales Zusammensein, sondern einfach nur um den Alkohol und mich.“ Im Rahmen dieser Behandlungen habe sie zwar sehr viele Sachen über sich und ihre Familie gelernt, dennoch „habe ich es nie geschafft, die Flasche stehen zu lassen.“
Während Rückfälle früher als Zeugnis einer nicht gelungenen Therapie gewertet wurden, hat sich das laut Sozialpädagogen Wolfgang Ehreiser, ebenfalls von der Suchtberatung, inzwischen stark geändert: „Wenn man weiß, dass jemand suchtkrank ist, dann weiß man, dass Rückfälle passieren.“
Erneut füllt sich der Raum mit Stille. Ich blicke zurück auf meinen heißen Becher. „Ich bitte jeden, der sich mitteilen möchte, die Hand zu heben“, ergreift Sabine schließlich das Wort. Sophies Hand schnellt nach oben. „Ich bin Sophie und ich bin Alkoholikerin“, fängt sie eingespielt an. „Wir haben vorher darüber geredet, wie ich mir vor zwei Jahren nicht im Traum hätte vorstellen können, hier zu sitzen“, lächelt sie selbstsicher.
Sophie stammt aus einer Familie, in der der Alkoholismus eine feste Rolle spielte; mit dem Trinken habe sie im Alter von etwa 13 Jahren angefangen. „Und da habe ich die Erfahrung gemacht, dass da etwas passiert ist, was bei jemand ‚Normalem‘ nicht passiert: Ein richtiges ‚Wow‘-Erlebnis, bei dem alles andere plötzlich egal war.“ Das Problem zu leugnen sei ein zentraler Teil ihrer Krankheit gewesen: „Früher dachte ich immer: Ich kann keine Alkoholikerin sein, denn ich bin nicht wie meine Mutter“, lacht sie später. „Ich weiß, was ich alles für den Alkohol gemacht habe – ich weiß nicht, ob meine Mutter so weit gegangen ist.“ Auch Ärztin Jeung bestätigt: „Ich habe noch nie einen Patienten getroffen, der bei einer auffälligen Blutwertkonstellation gleich zugegeben hat, dass er regelmäßig Alkohol trinkt“, Im Schnitt dauere es fünf bis sechs Jahre, bis sich jemand zur Krankheit bekennt. Unter allen Betroffenen unterziehen sich allerdings nur knapp 10 Prozent auch einer Therapie. Sabine ist anfangs ebenfalls auf der Parkbank vor der Klinik gesessen und Alkohol getrunken“, gibt sie zu. „Und dann war alles wieder okay. Es ging da nicht mehr um Party oder soziales Zusammensein, sondern einfach nur um den Alkohol und mich.“ Im Rahmen dieser Behandlungen habe sie zwar sehr viele Sachen über sich und ihre Familie gelernt, dennoch „habe ich es nie geschafft, die Flasche stehen zu lassen.“
Während Rückfälle früher als Zeugnis einer nicht gelungenen Therapie gewertet wurden, hat sich das laut Sozialpädagogen Wolfgang Ehreiser, ebenfalls von der Suchtberatung, inzwischen stark geändert: „Wenn man weiß, dass jemand suchtkrank ist, dann weiß man, dass Rückfälle passieren.“
[dropcap]E[/dropcap]rneut füllt sich der Raum mit Stille. Ich blicke zurück auf meinen heißen Becher. „Ich bitte jeden, der sich mitteilen möchte, die Hand zu heben“, ergreift Sabine schließlich das Wort. Sophies Hand schnellt nach oben. „Ich bin Sophie und ich bin Alkoholikerin“, fängt sie eingespielt an. „Wir haben vorher darüber geredet, wie ich mir vor zwei Jahren nicht im Traum hätte vorstellen können, hier zu sitzen“, lächelt sie selbstsicher.
Sophie stammt aus einer Familie, in der der Alkoholismus eine feste Rolle spielte; mit dem Trinken habe sie im Alter von etwa 13 Jahren angefangen. „Und da habe ich die Erfahrung gemacht, dass da etwas passiert ist, was bei jemand ‚Normalem‘ nicht passiert: Ein richtiges ‚Wow‘-Erlebnis, bei dem alles andere plötzlich egal war.“ Das Problem zu leugnen sei ein zentraler Teil ihrer Krankheit gewesen: „Früher dachte ich immer: Ich kann keine Alkoholikerin sein, denn ich bin nicht wie meine Mutter“, lacht sie später. „Ich weiß, was ich alles für den Alkohol gemacht habe – ich weiß nicht, ob meine Mutter so weit gegangen ist.“ Auch Ärztin Jeung bestätigt: „Ich habe noch nie einen Patienten getroffen, der bei einer auffälligen Blutwertkonstellation gleich zugegeben hat, dass er regelmäßig Alkohol trinkt“, Im Schnitt dauere es fünf bis sechs Jahre, bis sich jemand zur Krankheit bekennt. Unter allen Betroffenen unterziehen sich allerdings nur knapp 10 Prozent auch einer Therapie. Sabine ist anfangs ebenfalls nur in die Meetings gegangen, ohne sich ihren Zustand eingestanden zu haben: „Es war nie der Alkohol“, erklärt sie ihre frühere Denkweise. „Das wäre ja viel zu banal – ich bin ja viel komplexer als Mensch.“
Als Ulrike sich meldet, unterbricht sie meinen Gedanken: „Ich wusste schon immer, dass ich Alkoholikerin bin“, fängt sie an, redet darüber, wie der Alkohol Beziehungen zerstört hat. „Durch den Alkohol wurde ich einsam. Aber jetzt bin ich froh, hier zu sein.“
„Der Alkoholiker hat kein Problem mit dem Alkohol. Der Alkoholiker hat ein Problem mit dem Leben“, hallen Sophies Worte in meinem Kopf wider, während ich nachdenklich meine Tasse mustere. Und auch Ehreiser bestätigt: Hinter jeder Sucht stehe eine Persönlichkeit mit Problemen, die nicht bewältigt wurden. Je nachdem, ob das zu konfrontierende Krisen, soziale Verhältnisse oder psychische Erkrankungen seien. Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und im fortgeschrittenen Stadium auch ein Selbstwertverlust seien dann häufige Symptome. Kollegin Jeung ergänzt: „Wenn jemand an depressiven Symptomen und unter Alkoholabhängigkeit leidet, ist es ein bisschen wie das Henne-und-Ei-Problem: Man hat jemanden, der viel Alkohol konsumiert und psychisch auffällig ist. Und dann weiß man nicht: Konsumiert er jetzt Alkohol, weil er psychisch krank ist, oder konsumiert er Alkohol und hat als Folge eine weitere psychische Störung entwickelt?“
Nach einiger Zeit meldet sich Álvaro in Englisch zu Wort. „Mein Name ist Álvaro und ich bin Alkoholiker.“ – „Hallo, Álvaro.“ Er schaut sich kurz um. „Entschuldigt, dass ich etwas schüchtern bin, aber ich war noch nie außerhalb meines Zuhauses bei einem Meeting.“ Álvaro lächelt nervös, wirkt unruhig und klopft mit den Fingern auf seinem Oberschenkel. Und dann fängt auch er an zu erzählen: Davon, wie er sich seine Krankheit am Anfang nicht eingestehen konnte; davon, wie seine Ehe daran scheiterte. „Aber ich stimme der Bein-Analogie nicht zu“, nickt er abschließend überzeugt. „Als ich das Programm besuchte, fühlte es sich an, als ob meine Beine wieder nachwachsen würden.“
Nach Beendigung der Sitzung stehen alle auf. Álvaro bedankt sich schnell bei den anderen und verschwindet kurzerhand aus der Tür. Mein Kaffee ist kalt.
[dropcap]A[/dropcap]ls wir aus dem Gebäude gehen, prallt mir die Sonne ins Gesicht. Die Hauptstraße entlang laufend kommen mir auf dem Weg nach Hause hunderte Touristen entgegen: lachende Kinder, die das Wetter genießen; Kellner, die vier Weizen auf einem Tablett zu einer angeheiterten Gruppe nach draußen balancieren. Ich komme nicht umhin, es unfair zu finden, dass sie unbesorgt in den Abend gehen können, während Álvaro Probleme beim Laufen hat.
„Ich bin jetzt mehr Alkoholikerin als vor zwei Jahren“, erinnere ich mich an Sabines Worte, als ich sie nach der Auswirkung der AA auf ihr Leben fragte. „Mir ist jetzt viel bewusster, wie krank ich bin.“ Während ich an dem Tisch der Gruppe vorbeilaufe, fällt mir auf, dass es gerade dieser Mut zur Selbstbezeichnung ist, der in mir Bewunderung auslöst: Alkohol ist der Spaßvertreib, dessen Hingabe auf allgemeine Akzeptanz trifft. Und doch werden gerade die ihm Verfallenen ins Unantastbare geächtet. Unverständnis, das die Krankheit viel zu oft mit schlechtem Urteilsempfinden verwechselt. „Wenn ein Alkoholiker ins Krankenhaus geht, sagt der behandelnde Arzt meist: Ja, dann hören Sie doch auf zu trinken! Warum muss es so weit kommen, dass Sie jetzt Leberkrebs haben?“, kritisiert Jeung. „Alkoholismus wird als Willensschwäche interpretiert.“
Ich bin jetzt mehr Alkoholikerin als vor zwei Jahren
Eine Umfrage der Universitätsmedizin Greifswald ergab 2014 Schockierendes: 31 Prozent der Befragten möchten demnach Alkoholkranke nicht als Nachbarn, 34 nicht als Arbeitskollegen, 61 nicht als Untermieter, 60 nicht im Freundeskreis. Und das, obwohl die Bevölkerung in den letzten Jahren mit erheblicher Aufklärungsarbeit konfrontiert wurde. „Wir haben in den letzten 20 Jahren viel getan, aber offenbar zu wenig erreicht“, sagt Studienleiter Georg Schomerus der Frankfurter Rundschau.
Die Stigmatisierung bleibt: Die Bezeichnung des „Alkoholikers“ wird als Schimpfwort gebraucht; mit dem flaschensammelnden Obdachlosen assoziiert, statt sie als klassenlose Gesellschaftskrankheit zu verstehen. Alkoholsucht bedeutet Andersartigkeit. Und das, obwohl sie so gewöhnlich ist: „Jeder Mensch hat eine unterschiedlich hohe oder niedrige Verletzlichkeit für eine Alkoholabhängigkeit“, erklärt Ärztin Jeung. „Es ist wie bei einem Fass: Bei einigen ist das Fass fast leer oder sie haben einen guten Abfluss: Man kann literweise Stressoren wie Trennung vom Partner oder Arbeitsplatzverlust hineinschütten, bevor das Fass voll ist. Bei anderen, deren Fass aufgrund von genetischer Veranlagung oder schwieriger Lebensumstände gefüllter ist, reicht ein Tropfen, und das Fass läuft über.“
Menschen wie Sophie kämpfen gegen jeden Tropfen; gegen jedes gesellschaftliche Stigma – dadurch, dass sie das Wort „Alkoholiker“ als Eigenbezeichnung ins Licht rücken; dadurch, dass sie versuchen, Nein zu flüstern, in Momenten, in denen von ihnen erwartet wird, Ja zu schreien.
Ich respektiere sie und dabei kenne ich sie nicht, keinen von ihnen. Außer einem Vornamen weiß ich nichts über die Frauen: Kenne nicht ihr Alter, ihren Beruf oder ihre Lebensumstände. Ich weiß nicht, ob es Álvaro in Zukunft gelingen wird, zu laufen; ob er es vielleicht sogar schafft, zu rennen. Oder ob er hinfällt.
Das einzige, das ich weiß, ist, dass sie alle schon hingefallen sind. Doch weiß ich auch, dass sie alle wieder aufgestanden sind.
Und mehr brauche ich auch nicht zu wissen.
*Name von der Redaktion geändert
Von Sonali Beher
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Unter Studierenden
Auch Studierende kämpfen mit der Krankheit: Nach der 2015 erhobenen Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) überschreiten 16 Prozent der Studierenden die empfohlenen Alkoholkonsum-Grenzwerte. Rauschtrinken betreiben knapp 39 Prozent der Befragten mindestens einmal im Monat; 10 Prozent sogar das besonders riskante Rauschtrinken (monatlich vier oder mehrmals). Unterschiede zwischen den Geschlechtern sei hier nicht festzustellen. Bei diesen Werten sei kein signifikanter Unterschied zu erwerbstätigen Altersgenossen oder Auszubildenen festzustellen. Sie brauchen gleichermaßen Hilfe, werden mit denselben Stigmata konfrontiert. Während meiner Recherche stand gerade letzteres einem Interview mit Betroffenen im Weg: Zu groß schien die Scham, offen über die Krankheit zu reden. Und das, obwohl Alkohol ein großer Teil der studentischen Kultur ist. „Mit Burschenschaften wurde ich schon oft konfrontiert“, erzählt mir Wolfgang Ehreiser „Die haben ja solche schlecht reflektierten Trinkrituale.“ Dennoch liegen der BZgA zur Alkoholkrankheit unter Studierenden keine Daten vor; die Dunkelziffer bleibt bestehen.[/box]