Erkrankte Menschen aus dem Ausland gehen in Heidelberg in Therapie. Kann von Tourismus die Rede sein?
[dropcap]A[/dropcap]uf den ersten Blick merkt man der vierjährigen Anastasiia Neverovskaya aus Minsk ihre schwere Erkrankung kaum an: Für einen kleinen Moment ist sie etwas schüchtern, dann aber umso lebhafter. Ihre Cousine Anastasiia Shpakova, 23, aus Sankt Petersburg kann sie kaum bändigen, als es darum geht, ein Foto von den beiden zu machen. Sie begleitet sie, um mit ihrem guten Englisch die Sprachbarriere in Deutschland zu verringern. Die Cousinen kamen im April nach Heidelberg, um eine wirkungsvolle Therapie gegen die Krankheit der kleinen Anastasiia zu finden. Sie leidet an Krebs.
Die Reise der Cousinen nach Deutschland fällt in die umgangssprachliche Kategorie des „Medizintourismus“. Darunter werden sämtliche medizinischen Behandlungen gefasst, für die die erkrankten Personen Staatsgrenzen übertreten. Die Motive für eine Therapie im Ausland sind vielfältig: Entscheidend kann dem Wissensportal Medscape zufolge sein, dass die Behandlungsmöglichkeiten in den Herkunftsländern nicht vorhanden, ungenügend oder zu kostenaufwändig sind. Genauso kann eine Rolle spielen, dass die Wartezeiten auf Operationen im Ausland kürzer ausfallen.
Im Fall der kranken Anastasiia war die vorausgehende Behandlung in Russland erfolglos geblieben, eine Bestrahlungstherapie gar nicht möglich gewesen. Daraufhin folgten die Cousinen dem sehr guten Ruf des hiesigen Universitätsklinikums. Dort wurde ein in Russland übersehener Gehirntumor entdeckt. Nachdem er entfernt wurde, besserte sich der Gesundheitszustand des Mädchens. „Man kann die medizinische Behandlung in Russland gar nicht mit der deutschen vergleichen“, findet Anastasiia Shpakova.
Das Universitätsklinikum Heidelberg behandelt laut Pressestelle durchschnittlich 3000 ausländische Erkrankte im Jahr. Hauptsächlich stammen diese aus den arabischen Golfstaaten, aber auch aus europäischen Nachbarländern wie Bulgarien und Luxemburg sowie aus Russland und anderen GUS-Ländern.
Dienstleistungsunternehmen wie Europe Health, das auch über eine Filiale in Heidelberg verfügt, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Aufenthalte solcher Patientinnen und Patienten zu betreuen. Europe Health wirbt der Homepage zufolge mit Leistungen wie der Auswahl einer passenden Klinik, der Organisation einer Unterkunft und des Flughafentransfers, der Koordination von Untersuchungsterminen und der Bereitstellung von Dolmetschenden. Zudem bietet es aber auch die Zusammenstellung eines touristischen Rahmenprogramms an, das Museumsbesuche, Sightseeing und Shopping umfassen kann.
Die Cousinen Anastasiia und Anastasiia wohnen für die Zeit ihres Aufenthaltes in der Bahnhofsstraße. Cosy Flats nennt sich das Vermietungsunternehmen von Karl-Peter Bender, das dort seinen Sitz hat. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage vor allem aus dem arabischen Raum hat man sich hier auf ausländische Kundinnen und Kunden, die eine medizinische Behandlung in Heidelberg in Anspruch nehmen wollen, eingestellt: „Wir haben uns um Mitarbeitende mit arabischen Sprachkenntnissen gekümmert, um besser mit kulturellen Unterschieden umgehen zu können und Abläufe reibungsloser zu gestalten“, erklärt Bender. Die Räumlichkeiten werden meist mehrere Monate, häufig aber auch ein bis zwei Jahre lang bewohnt. Mittlerweile machen ausländische Mietende 80 bis 90 Prozent der Kundinnen und Kunden aus. Dennoch kooperiert das Unternehmen nicht mit Firmen wie Europe Health, sondern vermietet grundsätzlich an alle Arten von Interessenten möblierte Wohnungen.
Der Ausdruck Medizintourismus ist unpassend
Kritisch sieht Bender den Ausdruck „Medizintourismus“: „Es handelt sich dabei um ein sehr beliebtes Wort, das ich aber in vielerlei Hinsicht für unpassend halte.“ Problematisch findet er, dass die Bezeichnung falsche Vorstellungen hervorrufe.„Touristinnen und Touristen wählen Reiseziele aufgrund ihres Erholungswertes oder der Sehenswürdigkeiten aus. Die ‚Medizintouristinnen und -touristen‘ genannten Menschen kommen hingegen aus Krankheitsgründen mit schwerwiegenden Indikationen und erhoffen sich hier Hilfe und Heilung. Touristische Interessen sind für sie sicher sehr nebensächlich.“
Die Cousinen aus Russland und Weißrussland als „Medizintouristinnen“ zu bezeichnen, wäre zumindest ein deplatzierter Euphemismus. Denn ein touristisches Programm verfolgen die beiden keineswegs. Ihr Interesse gilt vielmehr der hoffentlich baldigen Genesung der kleinen Anastasiia. Die freie Zeit nutzen sie eher in der Natur und an der frischen Luft als zum Abklappern der Heidelberger Sehenswürdigkeiten und Museen.
Trotz des traurigen Reisemotivs kann Anastasiia Shpakova ihrem Aufenthalt einiges Positives abgewinnen: Die Menschen in Deutschland seien freundlich und hilfsbereit, die Abläufe unkompliziert. Einzig ihre Erwartungen bezüglich der absoluten Pünktlichkeit der Einheimischen hätten sich nicht erfüllt, erzählt sie schmunzelnd.
Von Lena Reinhardt