Mit dem Easter Rising feiern die Iren den Widerstand gegen die englische Kolonialmacht. Die Nationenbildung eines Landes, das um seine Identität ringt
[dropcap]H[/dropcap]in und wieder, wenn alle andere Themen schon mehr als einmal durchgekaut worden sind, kommen Diskussionen von staatstragender Bedeutung auf. Eine davon kreist um die Frage, ob es für Feiertage, die auf ein Wochenende fallen, trotzdem einen freien Tag geben soll. Das sagt nicht nur etwas über die Trägheit von Massenmedien aus, sondern auch darüber, dass die mit dem Feiertag verbundenen Ferien in Deutschland inzwischen weit wichtiger sind als der entsprechende religiöse oder historische Anlass. Das ist im tief katholischen Irland nicht nur in religiöser Hinsicht naturgemäß anders. Der irische Aufstand gegen koloniale Unterdrückung, der sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt, wird mit Aufmerksamkeit überschüttet.
Die unermüdliche Begeisterung, mit der das Easter Rising von 1916 behandelt wird, kann für Außenstehende schwer verständlich sein. Seit Wochen beherrscht das Thema Medien und Veranstaltungen. Das Motto der Feierlichkeiten „Reflecting the Rising“ erhebt den Anspruch auf einen differenzierteren Umgang mit dem Ereignis als noch die plumpe Militärparade vor 50 Jahren. Das gelingt und doch ist der Unterton der Bewunderung für den Einsatz der Rebellen allgegenwärtig.
Was geschah an Ostern vor 100 Jahren, das Irland so beschäftigt? In den Wirren des Ersten Weltkriegs sah eine Gruppe von rund 1200 Nationalisten die Chance, die englischen Kolonialherren herauszufordern. Der Act of the Union, mit dem die englische Elite Irland mit dem Vereinigten Königreich verschmelzen und ihr jegliche Selbstbestimmung nehmen wollte, radikalisierte Republikaner soweit, dass ihnen der gewaltsame Aufstand als einzige verbliebene Möglichkeit erschien. Sie besetzten ausgewählte Gebäude in Dublin und marschierten mit 300 Freiwilligen durch die O’Connell Street, um im von Granitsäulen bewachten General Post Office (GPO) ihr Hauptquartier zu beziehen. Die Verkündung der Proclamation of the Republic vor dem GPO durch Patrick Pearse markierte den Beginn des Easter Risings. In der ruhigen Atmosphäre des Ostermontags bleiben zunächst lediglich nur ein dutzend Schaulustige amüsiert stehen.
Die Werte des Manifests waren ihrer Zeit voraus. „Irishmen and Irishwomen“ wurden zur Treue zur neuen irischen Republik aufgerufen – ein Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Geschlechter in einer Zeit, als sich das allgemeine Wahlrecht für Frauen gerade erst anfing durchzusetzen. Der Gleichheitsgrundsatz sollte auch für Religionsfreiheit und andere Bürgerrechte gelten. Roger Casement, eine intellektuelle Schlüsselfigur des Easter Risings, hatte zuvor die Grausamkeit der Sklaverei in der belgischen Kolonie Kongo dokumentiert und prangerte sie öffentlich an. Da auch Irland koloniale Unterdrückung – gipfelnd im Trauma der Hungersnot – erlebte, identifizierte sie sich mit dem Schicksal anderer Kolonien. Casement, die sieben Unterzeichner des Manifests sowie neun weitere Anführer wurden nach Kriegsrecht ohne Prozess unmittelbar nach Ende des Aufstands hingerichtet.
Die Aufständischen haben gegen die militärische Übermacht der englischen Armee wenig mehr als Wagemut und den Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Das Schlachtschiff „Helga“ fährt die Mündung des Liffey hinauf und legt mit nur wenig zielgenauen 18-Pfund-Granaten einen ganzen Straßenzug in Schutt und Asche. In ganz Dublin flammen Kämpfe um Barrikaden auf. Die massive Fassade des GPO bietet guten Schutz, doch auch das Hauptquartier kann nicht gehalten werden, als die Engländer das Dach in Brand setzen. Nach fünf Tagen müssen die Rebellen um James Connolly aufgeben. Die Bilanz: umgerechnet 170 Millionen Euro Schaden, 2600 Verletzte, knapp 500 Tote – über die Hälfte von ihnen Zivilisten.
Das Easter Rising führte zu einem Guerillakrieg für die Unabhängigkeit, der durch das Anglo-Irische Abkommen beendet werden sollte. Das Abkommen sah die Trennung Irlands vor und spaltete damit nicht nur die Insel, sondern auch die nationalistische Bewegung. Die Irish Republican Army lehnte das Abkommen ab; ein blutiger Bürgerkrieg brach aus, der erst 1923 mit der Unabhängigkeit der irischen Republik und der Aufgabe von sechs Counties endete. Diese Unabhängigkeit war und ist insofern kontrovers, als dass sie die ursprünglichen Ideale von Gleichheit verriet, indem sie vor dem patriarchalischen Gesellschaftsentwurf der katholischen Kirche kapitulierte. Noch immer ist ein Großteil der Schulen katholisch; Abtreibungen sind ungeachtet jeglicher Umstände untersagt und Frauenrechte damit bis heute verletzt.
Weil das Easter Rising nicht weniger war als der Startschuss für diese Entwicklung, aber eben auch nicht mehr, ist es heute als Gründungsmythos von beinahe größerer Bedeutung. Nationalismus entsteht nicht durch die Existenz einer Nation; im Gegenteil. Das erfordert eine symbolische Macht, ausgeübt durch Flaggen, Hymnen und Sport und ausgeübt auch durch die Deutung von Geschichte für die Konstruktion der eigenen Identität, die eine wichtige Funktion für die Entwicklung des Staates hat. Nationalismus vermittelt – paradoxerweise – Kontinuität in Zeiten sozialen Umbruchs und Gleichheit in Zeiten steigender Ungleichheit.
Wenn es so etwas wie eine Nation im Sinne ethno-linguistischer Zusammengehörigkeit gäbe, dann wohl in Irland. Bis vor kurzem bestand die Bevölkerung ausschließlich aus weißen, katholischen Iren, abgesehen von einer kleinen Minderheit, der traveller community. Und dennoch kann die Nation den Staat nur begrenzt legitimieren. Der Staat nimmt nur geschätzte 68 Prozent der erhobenen Steuern wirklich ein, wenig im Vergleich zu 84 Prozent in Deutschland und 97 Prozent in Finnland. Als etwa Wassergebühren zur Modernisierung der maroden Infrastruktur eingeführt wurden, führte immenser Protest und Verweigerung dazu, dass die kürzlich gewählte Regierung gespalten darüber ist, diese wieder abzuschaffen.
Deshalb braucht Irland eine stärkere imaginäre Gemeinschaft und deshalb erfüllt das Easter Rising eine wichtige Funktion für dessen soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Die Erfindung eines Gründungsmythos suggeriert, dass Gemeinsamkeiten Unterschiede übertreffen. Erst diese – oft vermeintlichen – Gemeinsamkeiten motivieren, in Form von Steuern den Staat zu unterstützen. Das bedeutet, dass der Staat öffentliche Güter und Dienstleistungen besser bereitstellen kann, etwa die Qualität des grässlich gechlorten Wassers zu verbessern oder die in manchen Haushalten noch immer auftretende Kontaminierung mit hochgiftigem Blei auszuschließen.
Nationalismus ist eine Medaille mit zwei Seiten. Seit Jahren sickert Rassismus und Rechtspopulismus in den politischen Mainstream der meisten europäischen Länder. Das kann von Nationalismus nicht getrennt werden. Doch das Erfinden von Tradition, das in Irland zu beobachten ist, ist inklusiv und nicht – was nahe läge – gegen England gerichtet. Der kulturelle und wirtschaftliche Austausch zwischen den Ländern ist groß. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Engländer in Irland studieren oder arbeiten und andersherum.
Pearse und Connolly hätten sich wohl nie ausgemalt, dass ihre Uniformen 100 Jahre später zu einer Modekollektion des Luxuskaufhauses Arnotts verarbeitet werden. Und doch tragen sie so dazu bei, ihre Vision eines Staats gleicher Bürger zu verwirklichen. Der Weg dahin ist noch weit; selbst eine allgemeine Krankenversicherung gibt es nicht. Auch täuschen die pittoresken Dörfer der ländlichen Regionen allzu leicht über die Armut außerhalb Dublins hinweg. Das Bilden einer Nation bleibt unentbehrlich, um diese prekäre Lage zu überwinden und vielleicht gelingt es Irland dabei, die hässliche Kehrseite des Nationalismus verdeckt zu lassen. Ein positives Beispiel hat Europa gerade bitter nötig.
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Über den Autor
Jonas Peisker studiert Politische Ökonomik im 6. Semester.
Das letzte Jahr machte er einen Austausch an das Trinity College Dublin.
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