Damit hatte niemand gerechnet: Großbritannien verlässt die EU. Über die Gründe wird unter Studenten erst nach dem Brexit-Votum diskutiert
Who wants the Brexit?“, fragte ein Professor zu Beginn des Studienjahres in einer Europarechtsvorlesung der Universität Durham. Als eine von nur wenigen Unis in England gibt es hier einen Lehrstuhl für Europarecht. Im Herbst 2015 stimmen nur ein paar Jurastudenten im vollbesetzten Hörsaal für den Brexit. Die meisten von ihnen haben gerade ihren Abschluss an einer Privatschule irgendwo in England absolviert. Wie die vielen Erasmusstudenten neben ihnen sind sie alle mit der EU groß geworden, einer transnationalen Idee, die uns Studenten garantiert, einen Arbeitsplatz in Europa anzunehmen, mit der finanziellen Unterstützung der EU im (europäischen) Ausland studieren oder mit einem europäischen Pass innerhalb von zwei Stunden mit dem Eurostar von London nach Paris reisen zu können. Nicht wenige Eltern der Studenten arbeiten schon im europäischen Ausland oder in einer europäischen Institution.
Ein weiterer, großer Anteil der Studenten im Hörsaal kommt aus China, Vietnam oder Thailand, und hat jahrelang an internationalen Schulen oder in englischen Internaten auf die Aufnahme an einer europäischen Universität hingearbeitet, um vielleicht irgendwann einmal an diesem „europäischen Traum“ teilhaben zu können, den die EU zu verwirklichen versucht.
Eine Mehrheit der Studenten hat daher also bis zum Tag des Referendums nicht an den Brexit geglaubt. Und doch drehte sich dieses Bild am Ende ihres Studienjahres abrupt, als die Wahl einer einfachen Mehrheit von 52 Prozent den Austritt Englands aus der EU einleitete und an der Universität Durham vermutlich zum letzten Mal eine Vorlesung in Europarecht gelehrt wurde.
Aus einer falschen Gewissheit heraus – oder war es die englische Gelassenheit gegenüber den politischen Tumulten im Parlament? – blieb eine Debatte vor dem Referendum über den Verbleib Englands inner- oder außerhalb der EU unter den Studenten größtenteils aus. Erst das Erwachen nach dem Wahltag schien die Diskussion über die Rolle der EU eingeleitet zu haben, und plötzlich wurde in den Colleges, Pubs und auf WG-Partys debattiert wie in keinem Europarechtsseminar und auf keiner WG-Party zuvor. Doch da war es schon zu spät. Im Wahlbezirk North-east, rund um Durham, dem mittelalterlichen Universitätsstädtchen, wird nach den Midlands sogar prozentual die meisten Pro-Brexit-Stimmzettel Englands ausgezählt.
Eine ähnliche Verzögerung in der Diskussionskultur war an den „Leave“- und „Remain“- Kampagnen zu erkennen, die erst in den letzten beiden Wochen vor dem EU Referendum richtig anliefen. Erst von da an häuften sich in den englischen Briefkästen die Botschaften der Kampagnen. Und trotzdem mussten die Argumente beider Seiten für die meisten Wähler bis zum Wahltag unklar bleiben. Die blau-rot-weißen Flyer waren kaum voneinander zu unterscheiden, und versuchten mit wilden Zahlenspielereien und Bildern englischer Arbeitnehmer, Familien, Geschäftsmänner und -frauen nachzuweisen, weshalb die glücklichere Zukunft „in“ oder „out of the EU“ läge.
Die Rechenbeispiele beider Kampagnen produzierten das notwendig unvollständige Bild eines unvorhersagbaren Zukunftsszenarios. Falsche Versprechen kursierten ungehemmt, wie etwa das von der Investition des Betrags einstiger EU-Abgabebeträge in das Gesundheitssystem nach dem Brexit. Es bleibt die Frage offen, ob das Brexit-Referendum nicht doch nur ein Höhepunkt der verantwortungslosen, politischen Machtspiele in Westminster und der Downing Street in London war.
Welche Gründe bewegten aber tatsächlich mehr als die Hälfte der britischen Bevölkerung dazu, für den Brexit zu stimmen? Sei es in London, Oxford, Cambridge, Newcastle oder Durham – auf einer Städtereise durch das Land kurz vor dem großen Wahltag stieß man immer wieder auf die eine Grenzlinie, die EU-Sympathielinie, die durch so viele englische Städte verläuft.
Zunächst unscheinbar, doch auf den zweiten Blick unübersehbar, trennte sie die Wohngebiete im Stadtkern mit ihren teuren Immobilien von den günstigeren Wohnhäusern am Stadtrand. Während die „Remain“-Poster in den großzügigen Wohnzimmerfenstern der englischen Reihenhäuser, gerahmt von rosenbewachsenen Vorgärten klebten, prangten in den meist von Arbeiterfamilien bewohnten, einfacheren Wohnvierteln nur noch die Plakate der „Leave“-Kampagne an den Fenstern.
Das Wahlergebnis des 23. Juni bestätigte schließlich, dass viele Wähler aus der sogenannten „Arbeiterschicht“ aus Unzufriedenheit über ihre ökonomische Situation für den Brexit gestimmt hatten. Für diese Menschen waren Debatten über neue EU-Regulationen nur noch das „Gerede“ der Elite aus London oder Brüssel. Aus ihrer Sicht hatte alles Expertentum der EU an der eigenen wirtschaftlichen Situation nichts geändert. Hinsichtlich des seit vielen Jahren sinkenden Wertes des englischen Pfunds wuchs zugleich die Angst, die EU würde England schon bald den Euro als Einheitswährung aufzwingen. All dies zeigt, dass weder die EU noch die Remain-Kampagne es geschafft haben, den Engländern Errungenschaften der EU, wie etwa wirtschaftliche Freiheiten, die Verbreitung von europäischen Werten oder die Bestärkung von Menschenrechten mit Hilfe von EU-Institutionen schmackhaft zu machen.
Aus dem EU-Referendum lässt sich auch ablesen, dass viele Engländer die aktuellen Krisen der Globalisierung immer mehr mit der Vorstellung einer „gescheiterten EU“ gleichsetzen. Ein üblicher Vorschlag der Kampagnen-Vertreter, die für den Brexit warben, war daher die Begrenzung von Einwanderungszahlen, anstelle des europäischen Prinzips der Bewegungsfreiheit europäischer Bürger in der EU. Dass ein Großteil der Briten keine Vorteile in dieser Bewegungsfreiheit erkannte, spiegelt die tiefe Spaltung der englischen Gesellschaft wider. Sie teilt sich in die wirtschaftsstarken „Global Player“ in Metropolen wie London und die vielen Verlierer der Globalisierung in den (ehemaligen) Industriegebieten auf.
Nach dem Brexit-Tag, den der rechtspopulistische Politiker Nigel Farage zum neuen „Independence Day“ Englands erklärt hat, scheint zudem die Ablehnung gegenüber Ausländern salonfähig geworden zu sein. Dass sich ausländische Studenten in Durham seither mit Kleingeld oder Schokolade beworfen sahen, kratzt schon jetzt am weltoffenen Image der Universitäten Englands.
Dieser Ausgang des Referendums, dem nun in englischen Zeitungen auf den Grund gegangen wird, hat in der englischen Bevölkerung schließlich eine Debatte über die Rolle der EU ausgelöst. Tatsächlich hat der Beobachter den Eindruck, dass den meisten Engländern erst jetzt bewusst wird, welche Tragweite dieses Referendum für die Zukunft ihres Landes in Europa und das Friedens- und Wirtschaftsgerüst der EU hat. Zugleich wird die EU viele Lehren aus dem Brexit ziehen müssen.
Doch viele englische Europäer sehen sich nun vor eine neue Frage gestellt: „Who wants to exit Britain for the EU?“
Von Johanna Mitzschke
Aus Durham, England