Ich wollte ja eigentlich ein Interview führen. Es war jedoch voraussehbar, dass am 23.07.2016 im Heidelberger Zuckerladen kein freier und verfügbarer Moment für mich und das Interview zu ergattern sein würde. Denn zum 30. Geburtstag herrschte ein Ausnahmezustand in dem wohlduftenden Laden in der Plöck 52. Jürgen Brecht riet mir wärmstens, zum Geburtstag vorbeizukommen und einfach meine Eindrücke und Erlebnisse zu berichten.
Bereits das Betreten des Zuckerladens stellte sich als Abenteuer heraus. Als ich gegen 16 Uhr mit dem Fahrrad ankam, tummelte sich auf dem Bürgersteig eine lange Schlange von Gästen. Kaufbereite Kunden, Glückwunschboten und Schaulustige warteten darauf, in die ruhmreichen Räumlichkeiten gewunken zu werden. Ich wich den skeptischen und vorwurfsvollen Blicken auf meinem Weg an der Schlange vorbei zur Eingangstür aus und entschuldigte mich mit dem Hinweis, dass ich vom Ruprecht sei und ja nichts kaufen wolle. Es benötigte schließlich doch die mich herein winkende Hand von Marion Brecht, der Ehefrau von Jürgen Brecht. Der Einlass in den Heidelberger Zuckerladen gestaltet sich heute exklusiver als in so manchen Nachtklub. Kaum war ich durch die Tür, sah ich mich einer noch größeren Menschenmenge als der vor dem Laden gegenüber. Ein freundlicher Herr, der sich als einer von acht zusätzlichen Mitarbeitern an diesem Tag entpuppte, bot mir als Beobachtungsstelle einen noch freien Platz unter dem Anzeigenbaum am linken Ende des Ladens an. Mir gegenüber saß auf einem ehemaligen Kinosessel eines alten, nicht mehr bestehenden Heidelberger Kinos ein kleiner Junge, vollkommen vertieft in seine Lektüre. Weil er von seinem Sitzplatz aus den Durchgang in das Lager erschwerte, wurde er von Jürgen etwas grob zu einer anderen Sitzposition angewiesen. Bevor der Junge sich wieder in sein Buch vertieft, erkundige ich mich nach dem Buchtitel: Der Herr der Ringe. Alle Teile in einem Band vereint. Aber ich verliere mich in Details. Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen im Laden.
Ich höre den panischen Ruf von Jürgen nach Marion. Irgendwo aus einer anderen Ecke ertönt ihre Antwort: „Ich bin anwesend!“ Bevor ich mich weiter mit dem Publikum beschäftige, lasse ich meinen Blick aufmerksam durch den Raum schweifen. Von meinem Platz unter dem Baum stehe ich einem ersten Schauregal gegenüber. Angeboten werden verschiedenste Lutschbonbons in runden Gläsern, exklusiver Lakritz und lange Hariboschlangen aller Farben und Geschmäcker. In der hinteren linken Ecke erspähe ich ein Miniaturschlagzeug. Wenn sie jetzt noch einen Kapuzineraffen mit Rhythmusgefühl hätten… Von der Decke hängt die vordere Hälfte eines historisch wertvollen Ruderbootes. Ein ehemaliges Gigruderboot für acht Personen, benannt nach Kurfürst Friedrich von der Pfalz. Heute hängen von den Rollsitzen die Fanschals unzähliger deutscher Fußballvereine aus erster und zweiter Bundesliga. Ich sehe noch eine Zahnputzuhr aus gelber Pappe an der Wand hängen. Der Heidelberger Zuckerladen legt Wert auf Zahnhygiene. Für gewöhnlich sieht man im linken Schaufenster eine Schaufensterpuppe in einem Zahnarztbehandlungsstuhl sitzen. Wer die vielen Leckereien, welche der Laden zu bieten hat, auch langfristig genießen möchte, wird dazu angehalten auch ordentlich die Zähne zu putzen. Sehr verantwortungsvoll! Langsam dringen wieder die Geräusche an mein Ohr. Das Telefon auf der Verkaufstheke klingelt. Jürgen Brecht unterbricht sein Gespräch mit dem Pärchen an der Kasse, das darauf wartet das legendäre Würfelspiel zu spielen und noch ein paar weitere Süßigkeiten zu gewinnen. Jürgen spricht in das Telefon: „Es ist die Hölle hier heute“. Das Gespräch dauert nicht besonders lange. Jürgen nimmt das Gespräch mit den Kunden wieder auf. Ich bin beeindruckt. Trotz des großen Andrangs heute nimmt sich der Begründer des Zuckerladens die Zeit, mit jedem seiner Gäste ein individuelles Gespräch zu führen, sie zum Lachen zu bringen oder eine Anekdote zu erzählen. Dabei bekommt der eine oder andere aber auch mehr als sonst sein Fett weg. Der Herr von vorhin, der mir den Platz unter dem Baum verschafft hat kommentiert dazu, dass Jürgen grundsätzlich sehr direkt aber niemals unverschämt sei. Unter Berücksichtigung der heutigen Gesamtsituation ist es dann verständlich, wenn so mancher Spruch etwas gröber ausfällt. Aufgrund des wachsenden Ansturms auf den Laden kommt nun das Kommando, die aktuelle Warteschlange in den Laden hinein zu bitten und dann die Eingangstür abzuschließen. Der zusätzliche Mitarbeiter Max wird zum Türsteher umfunktioniert und soll ab jetzt vor der Tür mit nachfolgenden Gästen argumentieren, warum die Tür bereits verschlossen und ein Eintreten nicht mehr möglich ist. Es wird nun also noch enger in dem bereits vollen Laden. Einer der neuen Gäste stößt seine Begleiter an: „ Ich finde schön, dass die alten Bilder hier noch hängen“. Viele der Besucher im Heidelberger Zuckerladen sind Stammkunden und kennen den Laden bereits seit ihrer Kindheit. Das Angebot an Schokolade, Bonbons, Lakritz, Weingummi etc. hat sich in den 30 Jahren natürlich weiterentwickelt. Sonderwünsche- und Bestellungen der Kunden haben zu einem vielfältigen Sortiment an Zucker beigetragen. Dabei sind Eigentümer, Einrichtung und Verkaufsphilosophie des Heidelberger Zuckerladens beständig geblieben und haben folglich einen hohen Wiedererkennungswert bei jung und ehemals jung.
Auf einmal geht die Tür doch wieder auf und ein kleines Mädchen springt herein. Max sagt entschuldigend, es sei die Familie soundso. Regelmäßige Kunden des Zuckerladens. Jürgen will auch sie zunächst zurückweisen, doch ein mahnender Blick seiner Ehefrau Marion lässt Ihn gütig werden und er macht eine letzte Ausnahme:„ Nach euch ist aber wirklich Schluss. Sonst müssen wir jeden hereinlassen, weil der Vorherige ja auch noch hinein durfte!“. Eine verständliche und vernünftige Begründung, wie ich finde. „Sonst bleibt alles in der Endphase hängen!“ Verteidigt sich Jürgen. Das kleine Mädchen zieht also ihren großen Bruder und die Mutter mit in den Laden. Marion kommt zu Ihnen und beginnt ein Gespräch. Das kleine Mädchen schreit auf einmal auf und ruft: „ Vor der Tür ist eins!!“. Ich bin etwas verwirrt, bis mir auffällt, dass es ein Smartphone in den Händen hält und Pokémon Go spielt. Das Mädchen will sogleich wieder aus dem Laden herausspringen, doch es wird von ihrem Bruder zurückgehalten. Raus oder rein, sie muss sich schon entscheiden. Auch der Junge mit dem Buch wird auf das Mädchen aufmerksam. Sie beginnen direkt ein aufgeregtes Gespräch über die Anzahl von Pokémon in Heidelberg. „Wie ist das eigentlich, wenn ein Pokémon gefangen wird. Sind irgendwann alle weg oder kommen immer wieder neue für die anderen Spieler nach?“ Ich nutze die Gelegenheit und frage Marion: „ Habt ihr heute eigentlich schon angestoßen?“ „Nein, noch nicht.“ „Heute Abend dann?“ „Mal sehen was noch kommt.“ Am anderen Ende des Ladens besteht die Möglichkeit, sich mit Marion und Jürgen Brecht fotografieren zu lassen- bzw. mit verschieden Fotos von ihnen. Schließlich sind sie ja den ganzen Tag mit dem Verkauf von Zucker beschäftigt, so dass es schwierig wäre, nebenher noch für Fotos zu posieren. Die zwei jungen Männer haben bereits tags zuvor bei einem großen Event eines bekannten Privatfernsehsenders ihre Fotos geschossen und verteilt. Ich mache mich also auf den Weg zur anderen Seite des Geschäfts um mich mit Marion und Jürgens Porträts ablichten zu lassen. Ich wähle zwei Bilder aus, die die beiden jeweils im Profil zeigen und halte die Bilder rechts und links neben mein Gesicht. Es macht klick und wenige Augenblicke später halte ich ein frisch ausgedrucktes Bild in meinen Händen. Ich erkundige mich bei einem der beiden Fotografen, wie viele Fotos er heute bereits geschossen hat. Es seien ca. 200 Fotos, wobei die meisten Bilder ganze Gruppen zeigen. Bestimmt waren heute um die 500 Besucher im Zuckerladen. Die Fotostation war übrigens die Idee von Marion. Die Kunden vor mir in der Schlange möchten sich ihre Fotos noch signieren lassen. Auch auf diesen Wunsch geht Jürgen freudig ein und verteilt kreative persönliche Botschaften mit seiner Unterschrift versehen. Jetzt sind die letzten Kunden im Laden. Ich blicke auf die Uhr. Es sind zwei Stunden vergangen seit ich den Heidelberger Zuckerladen betreten habe. Es hat sich angefühlt wie eine Halbe. Jürgen proklamiert: „ Meine Stunde hatte heute 360 Minuten.“ Das 30 jährige Jubiläum kann auch eine neue Zeitrechnung bewirken. Jetzt verteilt Jürgen an seine Kunden ein letztes Mal ordentlich Sprüche. Niemand kommt mit trockenem Auge davon. Ein Junge möchte seine Einkäufe gerne in einer blauen Papiertüte verpackt bekommen. Leider sind keine mehr da, doch der Verkäufer findet Ersatz. Die Mutter bewundert: „ Das nenne ich ordentlichen Service. Aufopferung für die Kunden.“ So ist das nun mal im Heidelberger Zuckerladen. Jeder Gast ist immer willkommen und bekommt seine eigene Portion an Aufmerksamkeit, Charme und Direktheit. Aber zum Feierabend ist auch der geduldigste Mensch erschöpft und ausgelaugt. Ob Jürgen Brecht dieser Titel zusteht ist eine andere Frage. Die Schlacht des 30 jährigen Jubiläums ist geschlagen. Gewinner sind sowohl alle mit dem Zucker in der Tasche als auch diejenigen mit dem Zucker in dem Laden. Jedenfalls heißt es zum Abschluss: „ Ich habe die Schnauze voll. Nicht von euch (den letzten Kunden) sondern von der Gesamtsituation.“
Von Berenice Burdack