Drei sehr unterschiedliche Autoren erzählen bei der Lesung „Fahrtenschreiber“ im Klub_K über ihre Begegnungen in der S-Bahn
Piano-Jazzmusik tönt im Klub_K aus den Lautsprechern, die sonst durch den Bass der Clubmusik vibrieren. Orangene Lampen und Kerzen verbreiten ein weiches Licht. Hier halten Hutträger locker eine Bierflasche in der Hand und unterhalten sich angeregt mit am Rotwein nippenden Freunden. Genau die richtige Atmosphäre für eine Lesung dreier konträrer Autoren, die ein Experiment gewagt haben. Nachdem sie einige Tage Land und Leute in der S-Bahn, zu Fuß oder im Boot erkundet haben, schrieben sie einem beliebigen Format über ihre Erlebnisse und tragen nun die Ergebnisse nacheinander an diesem Abend vor. Im Auftrag vom Kulturbüro der Metropolregion Rhein-Neckar GmbH wurde das Projekt „Fahrtenschreiber“ von Matchbox initiiert. Das Kunst- und Kulturprojekt wurde 2015 gegründet. Es wandert seitdem durch Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz. Hier möchte es beispielsweise mit dem Twitter-„Tatort Neckartal“ oder anderen Aktionen den ländlichen Raum der Rhein-Neckar-Region erschließen.
Als erstes trägt David Wagner sein Werk vor, dessen Bücher in 17 Sprachen übersetzt wurden und der damit vermutlich der bisher etablierteste Autor der dreien ist. Für ihn, bei dem normalerweise Jahre zwischen Erlebnis und fertiger Niederschrift stehen, lag die Herausforderung darin, das Werk in der kurzen Zeit fertigzustellen. Frohen Mutes lief er zur Einstimmung seine Strecke beinahe bis nach Mosbach zu Fuß ab. Dementsprechend tauchen im Laufe seines Gedankenstroms seine Wanderschuhe als Motiv immer wieder auf. Mit diesen erkundet er die Gegend und stellt häufig fest: „Wie schön es ist!“. Gleichzeitig erinnert das erlebte Ende des Sommers den Erzähler an seine eigene Endlichkeit. Auf diese spielt er implizit durch seinen Minutenstil, aber auch explizit an. Während er den ländlichen Raum um Heidelberg mit Neckar und Apfelbäumen bewundert, witzelt er über andere Regionen: „In Hessen wird es gleich hässlicher.“ Das Publikum liebt ihn währenddessen und lacht mit ihm über seine Scherze, nimmt seine Eindrücke gespannt auf und wartet neugierig auf die Auflösung, wer das geheimnisvolle, vermisste „Du“ sein mag, welches er immer wieder in Gedanken anspricht –vergeblich.
Mit dem Regisseur Anis Hamdoun folgt ein Kontrastprogramm. Während David Wagner besonders auf die Natur geachtet hat, stehen bei ihm die Menschen im Mittelpunkt seiner auf Englisch vorgetragenen Betrachtungen. Lebendig und unterhaltsam erzählt „der Pirat“, wie er sich aufgrund seiner Augenklappe selbstironisch nennt, mit Schalk von der Schwierigkeit, routinierte, unemotionale Pendler zu beschreiben. Stattdessen malt er ein Bild von einer südlich anmutenden Dorfidylle, in welcher er selbst die Rolle des Zigaretten rauchenden und Kaffee trinkenden Exoten spielt, während die anderen beiden Autoren in ihrer Normalität eine Kontrastfolie bilden. Er sucht das Drama und findet es sogar in normalen Menschen, chaotischen Teenagern und cleveren Mädchen. Dabei fasziniert ihn die „authentische“ ländliche Gegend im Gegensatz zur touristischen und auf Hochglanz polierten Stadt. Ebenso wie bei David Wagner zieht sich auch bei ihm der Fluss als Ruhepunkt wie ein plätschernder, blauer Faden durch seine Erzählung.
Den krönenden Abschluss des Abends bildet die talentierte Julia Wolf, an der eine Poetryslammerin verloren gegangen ist. Besonders die Dialekte und Soziolekte („Is mein Leben, ich schwör“) haben es ihr offensichtlich angetan. Durch die Augen ihrer Erzählerin beobachtet das Publikum teils unverblümt, teils verschämt, teils voyeuristisch die Menschen in der S-Bahn. Es trifft auf die typischen Vertreter der allgemein bekannten Spezies, wie das Bauchnabelpiercing-tragende Teenagermädchen und die sekttrinkende Rentnergruppe. Auch mit Randgestalten, wie einem Tierpräparator oder einem Küfer macht es kurz Bekanntschaft. Zwischendurch schicken besorgte Weltverbesser-Freundinnen Whatsapp-Nachrichten an die Erzählerin und schlagen vor, dass sie durch ihren Text doch auf soziale Probleme aufmerksam machen soll. Auch der Gedanke an die altmodisch-besorgte Mutter und die im Germanistikstudium gelernten Details zu Heidelberg, steigern sich am Ende in einen surreal anmutenden, mit Hasensmileys vermischten, wortgewaltigen Traum. Aus diesem wacht auch das Publikum am Ende auf und beteiligt sich rege an einer abschließenden Fragerunde an die Autoren, bevor es nach einer gelungenen Autorenlesung zur Autogrammstunde, dem Buffet und der Bar stürmt.
Von Livia von Oldershausen