Leserbrief zu Johanna Mitzschke, „Kein Herz für die EU“ aus Ruprecht 163.
Die Juli-Ausgabe des Ruprecht veröffentlichte einen Artikel von Johanna Mitzsche, in dem sie basierend auf ihren Beobachtungen in Durham den Brexit diskutierte. Ich selbst befand mich zum gleichen Zeitpunkt ebenfalls im Durham und habe dort ebenfalls das Referendum miterlebt. Auf der Grundlage meiner Erfahrungen kann ich dem Artikel in Teilen zustimmen, andererseits gibt es eine Reihe von Punkten, denen ich hier meine Beobachtungen vor Ort entgegensetzen möchte.
Ein solcher Punkt ist die Behauptung, dass eine öffentliche Debatte zum Brexit erst in den letzten zwei Wochen vor der Wahl stattgefunden habe. Auf lokaler Ebene trifft das meiner Meinung nach nicht zu. Schon Monate vor der Wahl wurden jeden Samstag in Durham auf dem Marktplatz zwei direkt aneinander angrenzende Informationsstände aufgebaut, wo Vertreter beider Kampagnen mehrere Stunden lang miteinander und mit großen Gruppen interessierter Passanten sprachen. Ich fand, dass es sich um eine sehr reife öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema handelte, in der beide Seiten stets höflich und in den meisten Fällen gut informiert ihre Meinung darstellten. Natürlich intensivierte sich die Debatte intensivierte in den letzten Wochen vor der Abstimmung, aber sie begann deutlich früher.
Darüber hinaus waren auch Studenten Teil der Debatte. Wie auch immer die tatsächliche Wahlbeteiligung junger Menschen war, in Durham gab es studentische Gruppen (überwiegend für Remain, einige jedoch auch für Leave), die in den Wochen vor der Abstimmung regelmäßig und engagiert auf dem Marktplatz und vor der Unibibliothek für ihre Seite warben. Dies mag eine Minderheit gewesen sein, aber es war keine zu vernachlässigende.
Am wichtigsten ist es mir jedoch auf einen im Artikel angesprochenen Zwischenfall zu sprechen kommen: Ausländische Studierende seien seit dem Brexit auf der Straße mit Münzgeld und Schokolade beworfen worden. Es ist durchaus möglich, dass dergleichen passiert ist; ich selbst habe jedoch in der ganzen Woche nach dem Brexit kein einziges unerfreuliches Erlebnis dieser Art auf Durhams Straßen gehabt, gesehen oder auch nur davon gehört. Ganz im Gegenteil, ich selbst führte eine Reihe von intensiven Gesprächen mit Brexit-Wählern, darunter ein Taxi-Fahrer, der offen dazu stand, Ukip unterstützt zu haben, sowie die Inhaberin eines beliebten Durhamer Pubs. Beide behandelten mich ausnahmslos höflich und respektvoll. Ich denke, ich fasse die Einstellungen beider am besten zusammen, wenn ich sage, dass sie zwar EU-Gegner waren, aber keine Gegner Europas. Dies mag wie rhetorische Sophisterei wirken, ist aber ein wichtiger Unterschied. Zumindest diese Brexit-Befürworter waren nicht von Isolationismus oder Xenophobie motiviert, sondern von tiefer Enttäuschung über undurchsichtige politische Strukturen und dem Wunsch nach mehr nationaler Selbstbestimmung.
Die Brexit-Bewegung war sicher auch ein Sammelbecken für in ihrem Nationalstolz verletzte, über den Stolz des Empires reminiszierende, „working class“-Konservative. Der Wunsch, durch die Loslösung von Europa wieder Weltmacht zu werden, lässt sich leicht in der Rhetorik mancher Brexit-Befürworter finden. Auch mir mir natürlich bekannt, dass es in Großstädten wie London zu verachtenswerten Ausschreitungen gegen Immigranten und Fremde kam. Doch die Brexitbefürworter, denen ich selbst begegnet bin, schienen sich nicht im Geringsten an der Gegenwart von Ausländern in ihrer Stadt zu stören. Ganz im Gegenteil, ihnen war durchaus bewusst, wie sehr Durham und das Land von ausländischen Studenten profitiert. Die Brexit-Bewegung war und ist vielgestaltig und sollte in der deutschen Wahrnehmung nicht nur über ihre schlechtesten Elemente definiert werden.
Paul Blickle
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