Das Heidelberger Publikum stellte dem Amerikaner ungewöhnliche Fragen. Warum es gefährlich ist, eine intellektuelle Größe zu verehren.
Der wahre Höhepunkt des Nachmittags kündigte sich nicht lautstark an und hatte keinen eigenen Programmpunkt. Im Gegenteil – er schien viel eher als einleitender Anstoß vorgesehen; als Übergang zwischen dicht gepackter Lesung und polarisierendem Diskurs. Und doch war es gerade die erste Zuschauerfrage, die den denkwürdigen Moment des Nachmittags hervorrufen sollte. „Was raten Sie all jenen von uns, die keine finanzielle oder politische Macht haben und die Welt dennoch zu einem besseren Ort machen wollen?“, wollte ein Facebook-User von Noam Chomsky wissen.
Wie bekämpfen wir den IS?
„Was könnten wir tun, um wirkliche Veränderungen herbeizurufen?“ Die Frage war vertraut und nachvollziehbar; so schien sie die Gedanken vieler Anwesenden zu beschäftigen. Sie stand stellvertretend für das Gefühl der Machtlosigkeit, der Unfähigkeit, mit der wir uns immer dann vertraut machen, wenn wir wieder mal die Schreckensgeschichten der Welt kennenlernen.
„Wir befinden uns in einer der privilegiertesten Positionen der Welt“, brach der Politkritiker die Stille im Saal ernst, „wir haben nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, etwas zu tun.“ Chomskys Antwort schien einen Nerv zu treffen – und das nicht zuletzt deshalb, weil sie eine Frage in ihrer Essenz aufdeckte, die symptomatisch für die Gesinnung unserer Kultur steht: Sie hegt den Wunsch nach einem Wegweiser; das Herbeisehnen der eigenen Ohnmacht. „Wie bekämpfen wir den IS?“ lautete die nächste Frage plump. Die Fragestellerin wirkte konzentriert und standhaft; ihre Fragestellung fast schon wie eine Aufforderung nach einer durchstrukturierten magischen Musterlösung. Nach Chomskys vorigem Appell, Probleme immer in ihrer Komplexität wahrzunehmen, schien sie das Unmögliche zu erwarten.
Gerade dieses Verhalten stach an diesem Nachmittag so heraus: Die Beziehung zwischen seinem präsentierten Inhalt und dessen eigentlichen Umsetzung durch das Publikum wirkte inkohärent. Die Marke „Chomsky“ ist eine Ode an das kritische Denken, an das konstante Hinterfragen jeder bestehenden Struktur, jeder gesprochenen Aussage und jeder einflussreichen Person. „Trauen Sie mir nicht, trauen Sie nur Ihrem Verstand“, betonte der Linguist erneut in einem Interview mit der RNZ. Chomsky könnte nicht mehr dazu aufrufen, kritisch und vor allem eigenständig zu denken, wenn er jedem einzelnen seiner Zuschauer mit einem Megafon begegnen würde. Und doch wird gerade dieser zentrale Punkt zur Seite geschoben; seine Aussagen als magische Antworten eines allwissenden Orakels gehandelt – es ist die Idolisierung eines Mannes, der vor Idolen warnt.
Trauen Sie mir nicht.
„Die Verantwortung der Intellektuellen ist es, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken“, sagte der Amerikaner 1966. Während Chomsky diesem Statement treu geblieben ist, scheint ihm die Öffentlichkeit an diesem Punkt jedoch noch nicht loszulassen: „Moral judgement“ nennt der Linguist es in seinem neuen Bestseller „Wer beherrscht die Welt?“ – ein „moralisches Urteil“, dessen Fällung als die Arbeitsbeschreibung des Intellektuellen erachtet wird: Je erfolgreicher er ist, desto stärker werden die Antworten auf die Fragen unserer Zeit in seinem Kopf erwartet. Bei dem Politkritiker selbst scheinen diese mit dem Wort Gottes gleichgestellt zu werden.
So überrascht es nicht, dass die Werbetrommel für seine Ankunft in Heidelberg der Aufregung vor einem Papstbesuch glich. Und in gewisser Weise ist das ja auch nachvollziehbar: Von der New York Times Book Review als „wichtigster Intellektuelle der Gegenwart“ bezeichnet, ist Chomsky das leuchtende Vorbild liberalen Gedankenguts; der kritische Außenseiter inmitten einer politischen Kultur der Abhängigkeit. Seine Arbeit scheint in jedem geisteswissenschaftlichen Studiengang mindestens ein Mal Erwähnung zu finden; seine Aussagen zieren Poster von all jenen, die gleichermaßen ein politisches Statement setzen und Distinguiertheit suggerieren wollen.
Es ist also verständlich, dass seine Worte als gewichtig und gar orientierungsspendend erachtet werden. Doch die Stimmung in der Stadthalle überschritt die Grenze der Orientierungsfindung und ging kurzerhand in ein unreflektiertes Folgen über. Und die große Gefahr einer solchen Prophetenkultur ist die Rechtfertigung, die sie dem eigenen Ohnmachtsgefühl gibt: Das Privileg und das Recht der freien, kritischen Meinungsäußerung und der bürgerlichen Partizipation sind in ihrem Wert einzigartig, welcher jedoch gerade in dem Moment seine Attraktivität verliert, in dem ein „allwissende Guru“ einem die Mühe zur Ausführung des Rechts und damit die Verantwortung nimmt. Denn letztlich sind diese Werte nicht nur Rechte – sie sind Pflichten.
Es kann niemandem übelgenommen werden, wenn er sich inmitten politischer Umbrüche verloren fühlt. Wir leben in erschreckenden Zeiten und eine vernünftig klingende Stimme erscheint uns oftmals als die Rettung unserer eigenen. Doch gerade in solchen Zeiten ist Chomskys Motivation unabdingbar, wenn wir wirklich daran interessiert sind, gehört zu werden. „Sie fragen nie danach, was sie tun könnten“, erzählt der 87-Jährige über die Helfer, die er bei seiner Reise durch Flüchtlingslager kennenlernte, „sie tun es einfach.“
Von Sonali Beher