Für Historiker und Religionswissenschaftler sind Computerspiele nicht nur Zeitvertreib, sondern zugleich Forschungsobjekt.
Hoch über einem Mann in weißem Kapuzenmantel ragt der Petersdom auf. Kaufleute bieten ihre Waren in Karren an, Mönche laufen langsam vorbei und Frauen in weiten Röcken unterhalten sich auf der Straße. Das Computerspiel „Assassin’s Creed II“ entführt Spielende ins Italien der Renaissance. Doch nicht nur in dieser Spielwelt, sondern auch in vielen Computerspielen sind historische und religiöse Motive allgegenwärtig. Ähnlich wie vergleichbare kulturelle Motive in Büchern oder Filmen untersuchen Heidelberger Forscher sie in den Spielen.
In Computerspielen wimmelt es geradezu von historischer Bildsprache. „Klassiker“, die immer wieder auftauchen sind Weltkriege, Mittelalter und Piraten. Häufig ist das Setting der Spielwelt ein historisches. „Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung.“ sagt Kilian Schultes, der am historischen Seminar für Neue Medien und Geschichtswissenschaft zuständig ist. „In einem Weltkriegsspiel muss man nicht mühsam und damit teuer in das Setting einführen“. Das Thema ist aus Film und Literatur bekannt und der Spieler fühlt sich leichter in die Welt hinein.
Trotz der vielen Spiele, die Themen aus der Geschichte aufgreifen „sagt uns das Spiel im Normalfall überhaupt nichts über die dargestellte Geschichte, denn wenn die Entwickler die tatsächlichen historischen Begebenheiten darstellen würden, wären viele Spiele langweilig“, erklärt der Historiker. Ein Deutscher müsste in einem Weltkriegsspiel immer verlieren. Das hat wenig Unterhaltungswert.
„Was für uns als Historiker interessant ist, ist der Entstehungskontext der Spiele“ erläutert Schultes. Untersucht werden dabei besonders Spiele, die eine lange Laufzeit haben, wie das Strategiespiel „Civilization“. Der erste Teil erschien 1991 und trägt deutlich die Handschrift des Kalten Krieges. Unübersehbares Zeichen dafür: Die ultimative Waffe ist eine Atombombe. „Das erste Civilization war letztlich ein Nullsummenspiel. Einer gewinnt, einer verliert“, meint Schultes. Doch im Lauf der Serie verändert sich das. In den neuen Teilen hat der Einsatz der Atombombe massive Nachteile, wie Umweltverschmutzung, und man kann gewinnen, ohne Kriege zu führen. Die Spiele sagen also immer etwas aus über die Gesellschaft, für die sie produziert wurden. Die Reihe zeigt, wie sich Werte und Einstellungen in der Gesellschaft verändern.
Man muss sehr viel Zeit in die Recherche investieren.
Diese Werte und Einstellungen zeigen sich auch in der Art, wie man im Spiel Erfolge erzielen kann. Am schnellsten und einfachsten gewinnt man „Civilization“ nämlich wenn man sich verhält wie ein Amerikaner, also auf ein liberales und kapitalistisches System setzt. Das ist völlig unabhängig davon, ob man nun einen Amerikaner, einen Inkakönig oder den Inder Gandhi spielt. „Über die Mechanik, nicht über die Inhalte, lernt der Spieler, dass letzten Endes das erfolgreichste Modell die Welt zu erobern ist, demokratischer Kapitalist zu sein“, erklärt Schultes. Weil diese Botschaften im Gameplay versteckt sind, ist es wichtig, die Spiele nicht aufgrund ihres historischen Settings einfach als Darstellungen realer Geschichte anzuschauen, sondern beide Ebenen getrennt voneinander zu betrachten und zu vergleichen.
Dabei ist ein Kernproblem bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Computerspielen die hohe Schwelle. „Man muss selbst sehr aktiv werden und die Spiele tatsächlich spielen, um sie erfassen zu können“, erläutert Schultes. „Dadurch hat die Forschung immer einen subjektiven Einschlag, weil jedes Spielempfinden anders ist.“
Dieses subjektive Empfinden spielt eine besonders große Rolle, wenn es um Religion geht. „Bei Vorträgen erlebe ich oft Unverständnis von religiös geprägten Menschen darüber wie Religion in den Spielen dargestellt wird“, erzählt der Religionswissenschaftler Tobias Knoll, der zu Religion in Computerspielen forscht.
Doch auch Religion dient, ähnlich wie historische Motive, zunächst einmal dazu, die Spielwelt für den Spielenden glaubwürdig zu gestalten. „Religion ist etwas, das in unserem Leben auftaucht. Es kommt uns fremd vor, wenn es fehlt“, meint Knoll.
Dementsprechend viele religiöse Motive finden sich in den Spielen. Sehr häufig kommt vor allem Architektur in Form von Tempeln, Kathedralen und Kirchen vor. Außerdem finden sich mit Mönchen, Priestern oder Druiden oft religiöse Autoritäten in den Spielen. Um den Kampf Gut gegen Böse darzustellen, werden darüber hinaus oft Engel und Dämonen bemüht. „Ein Thema wie die Apokalypse ist einfach episch und eignet sich deshalb als Setting für die Spiele“, erklärt Knoll.
Neben Spielen, in denen religiöse Motive quasi am Rand auftreten, gibt es solche, in denen sie eine zentrale Rolle spielen. In „Dragon Age: Inquisition“ drängen die Figuren darauf, dass der Spieler die Rolle eines Messias annimmt. Das kann der Protagonist annehmen oder ablehnen. Die Frage ist, will ich ein übermächtiger Messias sein? „In den Foren diskutieren die Spieler, die mit dieser Entscheidung konfrontiert sind, dann teilweise sehr effektiv über das Thema Verantwortung und Glaube“, erklärt Knoll. Diskussionen wie diese zeigen, dass die Spiele genauso Teil des Netzwerks aus Kommunikation, Rezeption, Wiederverarbeitung und Transformation von religiösen Inhalten sind wie andere Medienformen auch.
Die Spiele sagen etwas über unsere Gesellschaft aus.
Ein weiterer sehr spannender Aspekt beim Thema Religion in Computerspielen ist die Verschränkung zwischen dem Spiel und dem realen Leben. So gab ein gläubiger Christ das Spiel „Bioshock Infinite“ zurück, weil er sich darin taufen lassen musste, um in die Stadt Columbia zu gelangen. Tatsächlich erinnert die Formel „im Namen des Propheten, des Gründer und des Herrn“ an die christliche Taufe. Für den Spieler kam das einer Wiedertaufe gleich und er ließ sich sein Geld zurückgeben.
Für Knoll sind die Spiele auch deshalb interessant, weil sie den Spielenden zwingen, sich mit Entscheidungen auseinanderzusetzen. „Wenn man einen Film anschaut, der eine wichtige Frage stellt, kann man sich weigern, die Frage zu beantworten. Wenn man das im Spiel tut, kann man nicht weiter machen.“ Im Zombiespiel „The Last Of Us“ steht der Protagonist beispielsweise vor der Entscheidung, ob er seine Tochter oder die Menschheit vor einem Virus retten soll. Solche ethischen Entscheidungen werden auch mit Verweis auf Religion in Foren immer wieder diskutiert.
Gerade auch wegen solcher Diskussionen ist es für die Forschung wichtig, nicht nur die Spiele selbst zu betrachten, sondern auch die Kultur um die Spiele herum. „Spieler identifizieren sich heute auch darüber, dass sie Spieler sind und Teil der Community“, erklärt Knoll. „Das Klischee vom Kellerkind-Gamer ist schon längst nicht mehr die Realität“, erklärt Knoll.
Gerade auch deshalb hält Knoll den schlechten Ruf der Spiele für unbegründet. „Man sollte nichts verteufeln, aber auch nichts in den Himmel loben. Letzten Endes ist es wie bei anderen Medienformen auch: Es gibt gute und wertvolle Spiele; es gibt aber auch Schrott. So wie auch manche Filme schlecht sind.“
Lehrveranstaltungen zu den qualitativ guten Spielen zu besuchen, ist gerade für Studierende, die selbst spielen, eine gute Möglichkeit, sich wissenschaftlich darüber auszutauchen. Denn das Thema ist vor allem eins: basisdemokratisch. „Wenn ich eine Veranstaltung zu Computerspielen anbiete, kennen die Studierenden die Quellen oft besser als ich. Das führt zu lebendigen Diskussionen“, erklärt Schultes.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Computerspielen als neuem Kulturgut ist ein spannendes und vielfältiges Forschungsfeld. Ein Blick in eine Lehrveranstaltung oder einen Artikel lohnt sich für alle Studierenden.
Von Esther Lehnardt