Opfer von sexualisierter Gewalt sind meist vor allem eins: anonym. Doch wie können wir ihre Situation verstehen? Was denken sie? Wir haben mit dem Heidelberger Frauennotruf gesprochen – und dem Männernotruf. Über Schmerz, Schuld und zwei schwache Geschlechter
Teil I – Frauennotruf
Sie haben ein Notruftelefon für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Wie viele Frauen melden sich dort am Tag?
Renate Kraus: Im Schnitt haben wir drei neue Meldungen in der Woche, aus Heidelberg und der Umgebung.
Kommt es vor, dass jemand anderes anruft, wenn die Betroffenen selbst gar nicht reden wollen?
Kraus: Ja. Gerade bei sehr jungen Menschen ist es mittlerweile sogar so, dass die Umgebung ziemlich viel Druck macht, darüber zu reden. Die sagen dann: Dir geht‘s schlecht und du musst reden. Die Betroffenen sind aber erstmal an einem Punkt, an dem sie noch nicht drüber reden wollen. Eine Vergewaltigung ist ja ein Schockmoment. Da ist es ein ganz natürliches Bestreben zu sagen, ich brauche erstmal wieder Boden unter den Füßen. Die Frauen stürzen sich oft viel in Arbeit, viel in Ablenkung. Und das ist eine wichtige Phase! Dann ist es auch in Ordnung, später zu kommen. Und wir raten den Zugehörigen immer: achtet die Grenzen, gerade jetzt. Denn es ist schon einmal ganz massiv die Grenze verletzt worden.
Haben Sie schon von sexueller Belästigung an der Heidelberger Universität gehört?
Kraus: Ja. Und… (lange Pause) Es ist nun mal ein Abhängigkeitsverhältnis. Die Professoren haben ja eine bestimmte Macht, dass es zu sexuellen Beziehungen kommt obwohl die Frauen das nicht wollen. Zwei Fälle hatten wir da schon.
Sophia Schreiber: In Heidelberg sind K.-o.-Tropfen ebenfalls ein Thema und zwar verstärkt in den letzten Monaten. Wenn ich im studentischen Umfeld die Ohren aufmache, dann haben die meisten entweder selbst Erfahrungen damit gemacht oder es schon mal bei jemandem mitbekommen.
Wenn ich mir überlege, was meine Umwelt unter Prävention versteht, dann sind das hauptsächlich Tipps wie: trampe nicht und sei nachts nicht allein unterwegs. Macht das überhaupt Sinn angesichts der Tatsache, dass 80 bis 90 Prozent der schweren Straftaten von Bekannten ausgehen?
Schreiber: Die Beispiele, die du genannt hast, sind ja Tipps, die Frauen dabei einschränken, Raum einzunehmen. Unser Ansatz ist viel mehr, ein Bewusstsein zu schaffen für die eigenen Grenzen. Sofort zu merken, was einem zu weit geht und eben nein sagen zu können, selbst wenn man dann unfreundlich ist. Wenn man sich bedroht fühlt, dann ist es auch okay, unfreundlich zu sein und unfreundlich nein zu sagen. Wir finden, dass sich Frauen durch Sicherheitshinweise nicht einschränken lassen sollten. Natürlich geben wir auch Tipps für Situationen, in denen man eine Angst verspürt oder sich unwohl fühlt. Da ist unsere Frage: was kann man tun, um mit einem guten Gefühl aus der Situation zu gehen?
Im Sommer wurde das Sexualstrafrecht reformiert, seitdem ist eine Vergewaltigung auch ohne Gegenwehr des Opfers strafbar. Das wurde allerdings sehr kontrovers diskutiert. Haben Sie schon von Fällen gehört, in denen sich ein Opfer nicht gewehrt hat?
Kraus: Aus der Hirnforschung wissen wir ja: in Situationen, die lebensbedrohlich sind oder als lebensbedrohlich empfunden werden, entscheidet unser Stammhirn. Und das hat drei Möglichkeiten zu reagieren: Flucht, Verteidigung oder sich totstellen. Dabei greift es auch nicht zurück auf Erfahrungen oder sonstiges Wissen. Und das Stammhirn entscheidet dann oft: ich stell mich tot. Heißt, ich schrei nicht, ich wehr mich nicht, ich lasse es über mich ergehen. Viele Frauen reagieren so. Und dann sagen sie sich hinterher: eigentlich hätte ich doch was machen können. Andererseits sagen aber auch mache Frauen, sie hatten keine Schockstarre, sie haben bewusst nicht geschrien, weil sie einfach sehr große Angst hatten. Weil sie das Gefühl hatten, wenn sie sich wehren wird alles noch viel schlimmer.
Hören Sie oft, dass die Betroffenen sich schämen?
Kraus: Ja. Immer. Die schämen sich immer und die Täter nicht.
Heutzutage schämt man sich ja in aller Regel nicht mehr, wenn man willentlich Sex hat. Wie erklären Sie sich, dass man sich noch für Sachen schämt, die man nicht freiwillig gemacht hat?
Kraus: Es ist oft so, dass die Frauen sich hinterher schmutzig fühlen. Sie berichten von Ekelgefühlen, als ob durch das Eindringen in den Körper die Handlung des Täters auf sie übergegangen ist.
Ist das nicht eine veraltete Vorstellung? Kommt das nicht aus einer Zeit, in der die Gesellschaft dachte, dass Frauen sexuell rein sein müssen und wenn das verletzt wird, dass man sich dann schmutzig fühlt?
Kraus: Das ist auch eine zwischenmenschliche Dynamik. Wenn wir von der sexuellen Gewalt mal weggehen: nehmen wir an, Sie sind in einer Arbeitsgruppe und dann merken sie, irgendwas stimmt nicht und jemand verheimlicht das. Und Sie sind diejenige, die das auf den Tisch bringt. Das fühlt sich scheiße an. Das fühlt sich an, als hätte man selbst was Schlechtes gemacht. Und alle sind gegen einen, obwohl man eigentlich nicht schuldig ist. Außerdem hat das mit der Schuld auch noch einen anderen Aspekt. Wenn ich mich schuldig fühle, habe ich auch das Gefühl, ich hatte noch eine Handlungsalternative. Dann habe ich das Gefühl, ich hätte anders reagieren können. Und wenn ich sage, ich hatte die nicht, dann ist das Gefühl der Ohnmacht noch viel größer. Absolut.
Knifflige Situation.
Kraus: Wir müssen uns im Allgemeinen zugestehen, dass es immer wieder Situationen gibt, denen wir ausgeliefert sind. Und was nach einer Vergewaltigung ebenso wichtig ist, ist das Bewusstsein, die Tat überlebt zu haben. Man hat überlebt und das ist wunderbar und es geht dann auch darum, das Leben zurückzuerobern.
Etwas so Krasses wie eine Vergewaltigung wird ja generell als traumatisierend verstanden. Aber ein Trauma ist ja auch ein psychologischer Begriff. Welche Symptome gehen damit einher?
Kraus: In einer lebensbedrohlichen Situation reagiert unser Körper ja damit, auf Hochbetrieb zu gehen. Und wenn man nicht davonrennt oder einen Gegenangriff startet, dann bleibt diese höchste Anspannung im Körper. In der Folge sind die Frauen dann extrem unruhig, leider unter Schlafstörungen und Angstzuständen. Auch Konzentrationsstörungen sind sehr häufig. Das kann über Wochen, Monate halten. Es muss sich aber nicht unbedingt eine posttraumatische Belastungsstörung bilden. Nicht alle Frauen, die eine Vergewaltigung erleben, sind traumatisiert. Das hängt von vielen Faktoren ab. Wie unterstützend das Umfeld ist, das ist sehr wichtig. Wenn aber kein stabiles Umfeld da ist und es vielleicht vorher schon traumatische Situationen gegeben hat, Missbrauch oder Unfälle oder Todesfälle – alle Situationen, in denen man sich maximal ohnmächtig gefühlt hat – dann kann es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen. Bei einer einmaligen Vergewaltigung ist die Chance aber sehr hoch, dass es dazu nicht kommt.
Das ist eine gute Nachricht! Verstehen das auch die Angehörigen? Oder vermittelt die Umwelt der Frau, dass jetzt eigentlich ein Bruch mit dem Leben stattfinden müsste?
Kraus: Leider erleben wir immer wieder, dass die Umwelt so reagiert. Und dass sie den Frauen nicht glauben, weil es ihnen ja angeblich nicht schlecht genug gehe. Dabei sind die Betroffenen natürlich alle verschieden. Auch Frauen, die massive sexualisierte Gewalt erlebt haben, können sehr taff auftreten. Das passt nicht ins Bild vom ‚Opfer‘. Leider wird den Frauen dann nicht immer geglaubt, gerade auch von angeblichen Freundinnen. Aber warum sollte eine einfach sagen, sie sei vergewaltigt worden? Die Falschanzeigen sind bei drei Prozent! (haut auf den Tisch)
Wo kommt diese Statistik her?
Kraus: Vom Landeskriminalamt. Von hochoffizieller Stelle.
Der Frauennotruf richtet sich ja nur an Frauen und Mädchen. Im Sinne der Gleichberechtigung, müsste man den Notruf nicht für alle Opfergruppen öffnen?
Kraus: Genau. Und da sind wir wieder bei einem geschlechtsspezifischen Unterschied. Die Frauennotrufe sind ja aus der Frauenbewegung entstanden. Und was ist mit den Männern? Kümmern die sich um sich? Es gibt ganz wenig Männernotrufe. Das ist schon bitter. Und da ist die Erwartung groß, dass das dann auch wieder die Frauen machen sollen.
Teil II – Männernotruf
Ihr Verein hat angefangen als eine Anlaufstelle für Männer, die häusliche Gewalt ausüben. Seit drei Jahren bieten Sie auch Unterstützung für männliche Opfer von häuslicher oder sexualisierter Gewalt an. Warum haben Sie den Männernotruf aufgebaut?
Meinolf Hartmann: Weil sich das Klischee vom Mann als Täter und der Frau als Opfer nicht durchhalten lässt. Opfer von Gewalt sind sogar zum größten Teil Männer. Zwar mehr im Außenbereich, aber es gibt auch Beziehungen, in denen Frauen Gewalt ausüben. Und dann gibt es Männer, die als Kind sexuell missbraucht worden sind. Die Polizei spricht davon, dass zehn Prozent aller Jungen unter 14 sexuellen Missbrauch erfahren. Bei den Mädchen von 15 bis 20 Prozent. Unser Anliegen war, dass Männer nicht erst selbst gewalttätig werden müssen, damit man drüber reden kann, was vorher war.
Was ist mit erwachsenen Männern, die sexualisierte Gewalt erfahren?
Das kommt relativ selten bei uns an. Aber das gibt es. Das Gefühl des Ausgeliefertseins kann man in einer sexuellen Beziehung auch als Mann haben. Und zwar nicht nur bei gleichgeschlechtlichen Paaren.
Dass ein Mann höchstens von einem Mann vergewaltigt werden kann, stimmt also nicht?
Nein, das ist falsch. Das Bild ist ja: Wenn ich als Mann eine Erektion habe, dann will ich. Aber das stimmt nicht. Wenn man da stimuliert wird, dann ist das eine Automatikreaktion. Auch wenn ein Erwachsener Sexualität an einen kleinen Jungen heranbringt, dann ist das durchaus normal, dass der eine sexuelle Erregung hat, nur…
…heißt das nicht, dass er das gerade möchte.
Der Betroffene gibt sich das oft als Schuld. Dabei ist das ein biologischer Automatismus. Eigentlich ist bei sexualisierter Gewalt aber nicht das Wichtigste, was passiert. Das Entscheidende ist die Sichtweise darauf. Es kommt drauf an, ob ich das Erlebte als eine Krise sehe oder nicht.
Wie meinen Sie das?
Zwei Beispiele: Ein junger Klient ist von einem pädophilen Lehrer nackt fotografiert worden und das hat den total aus der Bahn geworfen. Und dann wieder wurde irgendein amerikanischer Filmstar in einem Interview mal gefragt: wann hatten Sie Ihr erstes sexuelles Erlebnis? Und er meinte: naja, mit 14 hatte ich eine Nachbarin, die hat mich zum Mann gemacht. Und dann haben alle gelacht. Er hatte das auch als etwas verbucht, auf das er stolz war: schon mit 14! Wenn man sich die gleiche Szene mit einem Mädchen von 14 Jahren vorstellt – das wäre eine ganz andere Sache gewesen. Nicht nur moralisch, sondern wahrscheinlich auch von der Wahrnehmung der Person.
Mir war tatsächlich seit meiner Kindheit sehr bewusst, dass ich als Mädchen vergewaltigt werden kann. Ist das bei Jungen anders?
Wir machen viel Präventionsarbeit an Schulen. Jungen in dem Alter, in dem sie Opfer von Pädokrimen werden können, haben schon irgendwie mitgekriegt, dass es Pädophilie gibt. Aber nur die plakativen Sachen: dass ein Kind entführt oder drei Jahre eingesperrt wird. Bekanntermaßen sind das aber die Ausnahmen. Das meiste passiert im Bekanntenkreis. Davon wissen die Jungs nichts und wissen auch nicht, damit umzugehen. Und in den Familien von Betroffenen wird es oft nicht bemerkt, weil es auch dort nicht auf dem Schirm ist.
Ändert es für die emotionale Verarbeitung etwas, wenn man gar nicht auf die Möglichkeit eingestellt war und es einem dann doch passiert?
Es ist auch ein Abwehrmechanismus von Männern, sich so eine Ohnmacht gar nicht vorstellen zu können. Wir merken an den Schulen, dass die Jungen hauptsächlich denken: wir müssen uns verteidigen, wir sind ja Kerle! Und wenn wir dann über Missbrauch sprechen, dann sagen sie: „Den mache ich fertig, da soll mal einer kommen!“ Dabei sind die acht und gehen einem bis zur Hüfte. Sie haben ein total überhöhtes Selbstbild vermittelt bekommen, nach dem sie etwas bringen müssten, was sie gar nicht bringen können. Und wenn sie dann auf einmal doch sexuell missbraucht werden, dann wissen die gar nicht, was Sache ist. Und sie wissen auch nicht, wie sie das weitergeben sollen. Sie haben Angst davor, ausgelacht zu werden.
Hören Sie manchmal, dass Männer sich schämen, wenn sie sexuell missbraucht worden sind?
Ja, klar. Durchweg von allen. Das Schämen ist ja so eine Sache: Man konnte nicht kämpfen, man konnte nicht abhauen. Man möchte aber hinterher so gerne etwas machen und was bleibt ist, sich zu schämen und sich selbst fertigzumachen. Dann ist man noch aktiv.
Die ersten Sexualforscher gingen davon aus, dass eine Frau natürlicherweise passiv und frigide sei und ein Mann aktiv und aggressiv.
Was ja völliger Unsinn ist!
Aber was, würden Sie sagen, hat sich seitdem an diesem Bild geändert?
(lange Pause) Ich glaube, viele Männer haben Angst vor Sexualität. Also im Sinne von sich fallen lassen, sich selbst hingeben. Das Bild von früher wird immer noch viel reproduziert. Der Mann hat die Macht, ist oben, ist aktiv. Das ist für Männer ein Bild, mit dem sie sich auf der sicheren Seite fühlen. Von daher denke ich, es ist relativ ähnlich geblieben. Natürlich hat sich immerhin ein bisschen was bewegt. Ich mache seit 25 Jahren Gewaltprävention. Und als ich damals einen Männernotruf gründen wollten, haben alle gesagt: „Du bist nicht ganz dicht!“ Aber irgendwann war plötzlich ein Interesse für einen Männernotruf da.
Empfänden Sie es als einen Fortschritt, wenn Opferbetreuung irgendwann geschlechtsunabhängig stattfinden würde oder finden Sie es auch okay, dass Frauennotrufe und Männernotrufe getrennt sind?
Auf einer Ebene ja, auf einer anderen nein. Erstmal macht es Sinn, dass hier Männer hinkommen und man von Mann zu Mann reden kann – oder eben als Frau zu Frau. Weil die Erfahrungen einfach unterschiedlich sind aufgrund des Geschlechterunterschieds. Ich glaube aber, dass dann wieder eine Annäherung passieren sollte. Dass man dann nicht das Feindbild von den Männern oder den Frauen hat. Denn sonst ist man weiter in der Opferposition. Und eine Ideologie von dem Mann als Phallokraten, der gefährlich ist, nur weil er ein Geschlechtsorgan hat – das finde ich auch Quatsch! Ich erlebe viele Männer, die das nicht sind.
Die Gespräche führte Hannah Bley
[box type=“shadow“ ]Kontakt
Der Frauennotruf Heidelberg ist ein Ansprechpartner für alle Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Der Verein bietet anonyme Beratungsgespräche, unterstützt bei juristischen Verfahren und hilft bei der Opferentschädigung. 06221 183643 (Mo, Mi & Fr 10–12 Uhr, Di & Do 14–16 Uhr)
Der Männernotruf Heidelberg bietet Beratungsgespräche für alle Männer, die sexualisierte oder häusliche Gewalt erlebt haben. 06221 6516767, 0179 4883084 (Mo bis Fr 8–19Uhr)
Wer einen Verdacht auf K.-o.-Tropfen hat oder Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, kann sich rund um die Uhr an die Gewaltambulanz der Heidelberger Uniklinik wenden. Dort werden Spuren von Ärzten untersucht und gesichert. Die Beweissicherung ist kostenlos und wird für ein Jahr archiviert. 0152 54648393 (24 St./tägl.)[/box]