Der syrische Pianist Aeham Ahmad spielte inmitten des Krieges auf den Straßen von Damaskus. Nun lebt er in Deutschland. Ein Gespräch über Terror, Tod und die Kraft der Musik.
Aeham Ahmad wurde zwar 1988 in Damaskus geboren, doch ein „richtiger“ Syrer ist er nicht. Er gehört der palästinensischen Minderheit in Syrien an – „staatenlos“ heißt es in seinem Pass. Ahmad wächst im Flüchtlingslager Jarmuk im Süden von Damaskus auf, studiert Musik in Damaskus und Homs. Als in Syrien der Bürgerkrieg ausbricht, tritt Ahmad mit seinem Klavier auf die Straße und spielt für die Kinder inmitten des Krieges.
Aeham, dir fehlten nur noch drei Module zu deinem Studienabschluss. Dann brach im Jahr 2012 in Syrien der Krieg aus. Wie hat sich für dich das Leben in Jarmuk verändert?
Aeham Ahmad: Als der Krieg begonnen hat, hat alles darunter gelitten. Aber wir mussten damit einfach leben. Die Situation in Jarmuk um den Krieg ist sehr schwierig und sehr kompliziert. Ich bin ja kein richtiger Syrer, aber ich bin dort geboren und lebte dort. Wir wollten für dieses Land, das man uns allen genommen hat, etwas Gutes machen. Aber wir konnten nicht helfen – leider. Und da kam ganz schnell die Idee: Die einzige Sache, die ich machen könnte, ist, den Kindern auf der Straße in Syrien mit meiner Musik ein bisschen Freude zu bereiten.
In einer ZDF-Dokumentation sagst du: „Anstatt zu sterben, warte ich mit meiner Musik auf den Tod.“
Viele Menschen haben jeden Tag mit ihrem Leben bezahlt und ich konnte dabei nur zuschauen. Der Islamische Staat hat Jarmuk besetzt, dagegen konnten wir nichts tun. Jeden Tag sind die Menschen vor Hunger gestorben. Aber wir haben Menschen nicht nur vor Hunger sterben sehen, sondern auch durch den Krieg und die Waffen.
Hast du damals je darüber nachgedacht, das Klavierspielen auf der Straße zu lassen, weil es zu gefährlich war?
Ich war tot, so oder so. Daher: Warum sollte ich es lassen? Also zog ich es durch.
Woher hast du deine Kraft genommen?
Das Bild, das mich sehr stark beeinflusst und auch beeindruckt hat, war das Bild aus dem Film „Titanic“. Die Musiker haben bis zur letzten Sekunde Musik gespielt und mit ihrem Leben dafür bezahlt. Das Schiff geht unter, alle ertrinken – und sie spielen trotzdem weiter. Es gab keinen Menschen, der sie gehört hat, aber sie haben trotzdem gespielt.
„Ich war tot, so oder so“
Die Lage in Jarmuk verschlimmert sich. Es gibt keinen Strom, kein Wasser, keine Medikamente. Von einst 150 000 Menschen leben bald nur noch 16 000 im Flüchtlingslager. Im Frühjahr 2015 zünden Islamisten Ahmads Klavier an, weil er trotz des verhängten Musikverbots auf der Straße spielt. Ahmad erzählt, dass sie ihn umgebracht hätten, wenn sein blinder Vater sich nicht vor ihn gestellt und gesagt hätte, dass das Instrument ihm gehöre. Seit diesem Vorfall ist Ahmads Leben massiv in Gefahr; im August 2015 flieht er aus Jarmuk. Seine Frau und seine beiden Kinder muss er zurücklassen.
Du bist aus Jarmuk geflohen, über die Türkei, das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Wie hart war die Reise für dich?
Wir sind unmenschlich hierhergekommen. Aber ich war nicht der Einzige, der dort unterwegs war, ich war einer von vielen. Es war genauso hart wie für alle anderen.
Was hast du auf dem Weg nach Deutschland erlebt?
Es ist verdammt schwer, wenn du siehst, wie die Menschen dort sterben. Gerade sitzt noch jemand neben dir, eine Stunde später ist er tot. Du sitzt im Boot und du siehst alle drei, vier Meter eine Leiche neben dir schwimmen. Und du weißt, in der nächsten Stunde könnte ich es sein. Auch als ich durch die Wälder gelaufen bin, habe ich Leichen gesehen. Sie waren einfach eingefroren. Solche Bilder gehen nie weg.
Du bist jetzt seit September 2015 in Deutschland. Wie sind dir die Menschen hier begegnet?
Deutschland hat uns freundlich begrüßt. Aber egal, wie freundlich du begrüßt wirst, in deinem Inneren vergisst du es nie. Meine deutschen Freunde haben mich sehr unterstützt und dabei geholfen, dass meine Familie hierherkommen kann. Sie haben mich und meine Familie ganz lieb und warm empfangen.
Deine Frau und deine zwei Kinder waren lange Zeit noch in Syrien, nun sind sie bei dir. Wie fühlst du dich?
Ich bin jetzt seit einem Jahr und zwei Monaten hier und ich fühle mich richtig wohl, seitdem meine Frau und meine Kinder zu mir gekommen sind. Das war im August dieses Jahres. Aber ganz im Inneren habe ich dieses Gefühl: Ich sitze hier zwar mit meiner Frau und meinen Kindern, aber da gibt es ganz viele Freunde von mir, die noch unter der Situation in Syrien leiden. Dieses Jahr habe ich 232 Konzerte gegeben. Es soll einfach ein kleiner Trost für die Menschen sein, die in Syrien zurückgeblieben sind.
Einer dieser Menschen ist Niraz Saied. Der Fotograf aus Jarmuk wurde vom syrischen Regime gefangen genommen. Er war es auch, der das Foto von Ahmad schoss, das ihn am Klavier in Jarmuk inmitten der Trümmer zeigt. Ahmad ist es wichtig, an seine Mitmenschen in Syrien zu erinnern.
Wie hilft dir die Musik dabei, das Erlebte zu verarbeiten?
Sie hilft sehr viel. Durch die Musik verringern sich meine Albträume ein wenig. Musik macht mich innerlich rein. Die Bilder, die du jeden Tag im Fernsehen siehst, die bleiben nicht den ganzen Tag im Kopf. Was bleibt sind die Klänge der Musik.
Du möchtest dich mit deiner Musik gegen den Terror wehren. Inwieweit ist das überhaupt möglich?
Diese Terroranschläge passieren täglich und auf verschiedene Art und Weise. Es gibt überall Terroranschläge und Terroristen. Ob das jetzt in Syrien ist oder in der Türkei. Vielleicht ist die Botschaft über Musik nicht so stark wie Waffen, aber sie kommt mehr im Herzen an. Und diese Botschaft sollte immer da sein.
Inwiefern geht es dir auch um Kultur und Religion? Eint es, wenn man Musik aus verschiedenen Kulturen spielt?
Es geht mir nicht um die Vermischung von Kultur und Religion. Kulturen und Religionen sollen in der Lage sein, nebeneinanderzusitzen und sich gegenseitig zu verstehen. Jeder Glaube hat seine eigene Kultur und jede Kultur hat seine eigene Religion. Wenn wir wirklich Kulturen verbinden wollen, müssen wir das nicht über die Religion machen.
Am Abend im Karlstorbahnhof spielt Ahmad als erstes Stück ein unkonventionelles und virtuoses Medley aus Mozarts Rondo „Alla Turca“, Beethovens „Für Elise“ und improvisierten Passagen.
Du spielst sowohl klassische Musik als auch Musik aus deiner Heimat. Was ist für dich der Unterschied dabei?
Ich will die Leute erreichen. Wenn ich Lieder aus Jarmuk spiele, erreiche ich die Leute aus Jarmuk. Wenn ich in einem Land wie Deutschland Klassik spiele, wo man auch Klassik versteht, dann fühle ich mich genauso geehrt, dass die Leute meine Musik verstehen. In meiner Heimat hat nicht jeder die klassische Musik verstanden.
Du hast einen Granatensplitter in deiner linken Hand. Wie stark behindert er dich beim Klavierspielen?
Es sind drei verschiedene Teile in meiner Hand und bis heute verkrampft sie, wenn ich spiele. Aber es funktioniert. Das wichtigste ist, dass die Hand funktioniert. Manchmal gibt es Krämpfe, aber dann ist es mein Geheimnis.
„Ich bin der erste und der letzte Pianist in Jarmuk“
Ahmads Auftritts im Karlstorbahnhof ist bei weitem kein gewöhnliches Konzert. Vor allem Ahmads Duopartner, der ägyptische Perkussionist Bergo Kamal Ibrahim, animiert das Publikum immer wieder zum Mitklatschen und Mitsingen. Letzteres geschieht sowohl auf Arabisch als auch auf Deutsch. Und so stehen Lieder aus Ahmads Heimat neben „Alle meine Entchen“. Ahmad erzählt, dass seine Deutschlehrerin es ihm beigebracht hat. Später am Abend widmet er ein Lied den Kindern, die täglich in Syrien sterben müssen. „Die Gestorbenen kommen nie wieder“, sagt er. Die Texte, die Ibrahim für das Publikum ins Deutsche übersetzt, sind ergreifend und gehen in ihrer Schlichtheit dem Publikum nahe. Etwa die Geschichte eines Mädchens, das im Kriegsgeschehen ihr Leben verlor: Ein Mädchen lebt in einem Haus. Dann fällt eine Bombe auf das Haus. Das Haus ist weg – das Mädchen ist weg. „Ich habe Sehnsucht nach meinen Mitmenschen. Nach den Kindern, die um mein Klavier herumstanden“, erzählt Ahmad. „Ich bin der erste und der letzte Pianist in Jarmuk.“
Am Abend ist der Karlstorbahnhof nicht nur ein Ort, an dem Musik erklingt, sondern auch ein Ort des Miteinanders und der Öffentlichkeit. „Es ist wichtig, einen Platz zu haben, an dem man über alles reden kann“, erzählt Ibrahim auf der Bühne. Und so wird in der Mitte des Abends eine kleine Gesprächsrunde eingeschoben, die Georg Stein vom Palmyra Verlag moderiert. „Frieden – das ist, was wir wirklich brauchen“, sagt Ahmad, der sich bescheiden gibt. „Die Menschen, die im Gefängnis sitzen, sind viel stärker als ich. Sie können viel mehr erzählen.“ Und doch steht nun er im Mittelpunkt. Im Jahr 2015 erhielt Ahmad den ersten Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte. Auch bei der Veranstaltung im kommenden Jahr wird er auftreten.
Du hast mittlerweile in Deutschland mit bekannten Künstlern auf der Bühne gestanden: Martha Argerich, eine der berühmtesten Pianistinnen der Welt, Herbert Grönemeyer, Judith Holofernes von „Wir sind Helden“. Was bedeutet dir das?
Es ist eine riesige Ehre, meinen Namen neben ihren Namen zu sehen. Es gibt mir auch das Gefühl: Wenn es so berühmte Menschen gibt, die es akzeptieren, dass ich neben ihnen stehe, dann habe ich wirklich mein Ziel erreicht und meine Botschaft gesendet.
Eine Botschaft senden, will auch das Konzert im Karlstorbahnhof. Ein Teil des Erlöses geht als Spende an eine Heidelberger Flüchtlingsorganisation. „Musik hat viel Kraft, um Dinge zu verändern“, sagt Ahmad. Kopfnicken im Publikum. Am Ende des Abends steht der gesamte Saal. Eine Minute lang. Für den Frieden.
Du lebst jetzt in Wiesbaden. Wie sehen deine Pläne für die Zukunft aus?
Ich möchte mit meiner Frau und meinen beiden Kindern hier in Frieden leben, meine Musik als Botschaft für Liebe und Frieden weitergeben. Und ich möchte mit meinem eigenen Geld die Ernährung meiner Kinder sichern. Ob das jetzt mit meiner Musik ist oder durch den Verkauf von Falafeln. Das ist egal.
Das Interview führte Jesper Klein.