Die „Grande Nation“ Frankreich strauchelt – und flüchtet sich in eine Diskussion ihrer Identität
Junge Franzosen, was auch immer die Nationalität eurer Eltern sein sollte, sobald ihr französisch werdet, sind eure Vorfahren die Gallier und Vercingetorix.“ Mit diesem Satz sorgte der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy im Wahlkampf der jüngst beendeten konservativen Vorwahlen für einen kleinen Skandal. Linke Politiker griffen ihn als „Sprachrohr“ des rechtspopulistischen Front National scharf an und diverse Historiker beeilten sich, die gallischen Vorfahren als Mythos zu enttarnen.
Und doch steht diese Wortmeldung für eine Tendenz, die zurzeit in der französischen Politik zu beobachten ist: Die Geschichte als Mittler französischer Identität spielt wieder eine zentrale Rolle in der politischen Debatte. Doch geht es dabei oft nicht mehr um die Erzählung einer wechselhaften, vielschichtigen und prinzipiell ergebnisoffenen Vergangenheit: Die Nation dient wieder als Muster einer zweitausendjährigen Ruhmeserzählung, des „récit national“. Ebenso zentral wie anachronistisch ist in diesem die Betonung des „Französischen“ in der scheinbar langen Konstanz nationalisierter Geschichte.
Im Mittelpunkt der Diskussion steht die republikanische Partei, die von der politischen Strömung des Neogaullismus dominiert wird. Seine Protagonisten, wie Nicolas Sarkozy oder der jüngst gewählte Präsidentschaftskandidat François Fillon, vertreten in Tradition des namensgebenden Charles de Gaulle eine strikt wertkonservative bis autoritäre Politik. Über allem steht für sie „la patrie“, das französische Vaterland, als eine Nation von besonderer, ja einzigartiger nationaler Größe.
Französische Revolution, Ludwig XIV., Napoleon – daran misst man sich
Doch sind sie damit bei weitem nicht allein. So war es paradoxerweise der Vorsitzende der Linkspartei, Jean-Luc Melenchon, der Sarkozy im Gallier-Skandal als einziger Nicht-Republikaner zumindest in Teilen zustimmte. Er sprach sich zwar gegen eine Ethnisierung der Debatte aus, gleichzeitig betonte er jedoch: „In dem Moment, in dem man Franzose ist, übernimmt man die nationale Erzählung.“
Auch der Front National spricht in seinem Programm oft von der außerordentlichen Vergangenheit Frankreichs, die – ganz im Sinne populistischer Agitation – heute kein Gehör mehr fände. Auch wenn ihr Programm den Begriff des „récit national“ geschickt umschifft, steht doch mit der „Verteidigung der einzigartigen französischen Kultur“ das Ziel fest.
Die „grandeur“, das Verlangen nach einer nicht nur bedeutenden, sondern außerordentlichen Stellung, sitzt in der französischen Gesellschaft tief. Die Französische Revolution, Ludwig XIV., Napoleon – an diesen Vorbildern misst man sich. Doch in seiner derzeitigen Lage ist Frankreich weit von diesen Zuständen entfernt. Dies bestätigt auch Philippe Poirrier, Professor für Neue Geschichte an der Universität Dijon: „Die französische Gesellschaft ist schwer geschüttelt von einer tiefgreifenden sozialen Krise, die zu Teilen ein Produkt der Globalisierung ist.“ Die Wirtschaft strauchelt, die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordhoch und die politische „Klasse“ vielen Franzosen verhasst. Das Gefühl der Hilflosigkeit ist in dieser Situation weit verbreitet – und befördert die Sehnsucht nach den scheinbar überschaubaren Verhältnissen der Vergangenheit.
Besonders im politischen Bewusstsein ist der Spalt zwischen Anspruch und Wirklichkeit tief: „Viele Franzosen glauben, dass Frankreich als große Nation an der internationalen Politik teilnehmen muss. Sie leben in der Illusion, dass Frankreich die unumgängliche Nation ist, die sie einmal war“, so Jean-Christophe Marcel, Soziologe an der Universität Dijon. Vor allem das Abfallen gegenüber dem innereuropäisch konkurrierenden Nachbarn Deutschland nagt schwer an der französischen Seele. So dient die Konzentration auf ehemalige Größe in fast schon schizophrener Weise sowohl dem Erhalt eines überholten Selbstbildes wie einer trumpesk anmutenden „Make France great again“-Rhetorik von Seiten meist konservativer Politiker.
Ein besonders umkämpftes Feld ultra-patriotischer Polemik ist die Schule. Allen voran der republikanische Präsidentschaftskandidat François Fillon fordert eine radikale „Umschreibung“ der Geschichtsbücher: Weg von einer angeblichen Anerziehung der „schamvollen“ Beziehung mit der Geschichte, hin zur Vermittlung der „nationalen Erzählung“. Diese solle einzig zur „fortschreitenden Erarbeitung der einzigartigen Zivilisation Frankreichs“ dienen.
Dabei beziehen sich Fillon und ähnlich argumentierende Politiker auf die aus dem 19. Jahrhundert stammende Idee der Schule als Verbreitungsmedium einer uniformen, national geprägten Identität. Denn in einer Zeit, in der sich das zuvor weitgehend unwichtige „Franzose-Sein“ gegenüber lokaleren Identitäten nach und nach durchsetzte, traten besonders zwei Faktoren in den Vordergrund: Sprachliche Vereinheitlichung und Konstruktion einer gemeinsamen, eben „französischen“ Geschichte. Und um das weitere Bestehen der jungen wie krisengeschüttelten Bürgergemeinschaft zu garantieren, wurde die schulische Weitergabe der traditionsgebenden Erzählung nationaler Größe für grundlegend erklärt. Historische Akuratesse stand da weniger im Vordergrund: „Kind! In diesem Buch wirst du die Geschichte Frankreichs lernen. Du musst Frankreich lieben, denn die Natur hat es schön und die Geschichte hat es groß gemacht“, so tönte der Umschlag eines der meist genutzten Schulbücher der damaligen Zeit.
Vielstimmigkeit und Diskussion werden abgelehnt
Doch solche nationalistische Mythen sind heute äußerst problematisch, wie Philippe Poirrier kritisiert: „Diese Forderungen sind durch und durch autoritär. Sie haben weniger zum Ziel ihre Version der Geschichte anzubieten, als vielmehr die einzig richtige Weise festzustellen, wie Geschichte zu schreiben und zu unterrichten ist“. Damit lehnen sie all das ab, was eine angemessene Auseinandersetzung mit Geschichte ausmacht: Vielstimmigkeit, Diskussion, Ergebnisoffenheit. „Methodisch wollen die Verteidiger des reçit national“, so Poirrier weiter, „eine Geschichte, die nicht mehr als Quelle für Fragestellungen dient, sondern eine national verengte und somit anachronistische Erzählung, die sich von Überschneidungen und Wechselwirkungen mit dem Rest der Welt nicht mehr stören lässt.“
Der Mythos wird so zu einer Erzählung angeblicher Ruhmestaten, in der negative Ereignisse keinen Platz mehr finden. Ein ausgewogenes Geschichtsbild führt bei den Verfechtern des „reçit national“ immer wieder zu harscher Polemik: „Als Meister der Selbstkasteiung und Opfer der Verweichlichung seiner Schulen, der kolonialen Reue und der Gefahr des Multikulturalismus rennt Frankreich in seinen völligen Identitätsverlust“, so der rechtskonservative Essayist Dimitri Casali gegenüber Le Figaro.
Reue und Selbstkasteiung, schon diese Begriffe, die im konservativen Milieu immer wieder verwendet werden, sind einschlägig – und kommen bei den Wählern an. So ergab eine Umfrage des Meinungsumfrageinstituts IFOP (Institut français d’opinion publique) von Oktober dieses Jahres, dass 48 Prozent der Franzosen eine Entschuldigung durch ihre Regierung für die Kriegsverbrechen der französischen Armee im Algerienkrieg ablehnt. Unter Sympathisanten der Republikaner (68 Prozent) und des Front National (75 Prozent) war die Ablehnung sogar noch einmal deutlich höher. Zugleich wird die Erzählung von einer langen Konstanz „französischer“ Geschichte und Kultur zu einem immer wieder vorgebrachten Gegenbild zur Ankunft neuer Bevölkerungsgruppen und deren schädlicher Einflüssen stilisiert.
Frankreich steckt in einer Krise
Vor allem der ausländerfeindliche Front National durchzieht sein Programm mit einer Schwarz-Weiß-Konzeption der einzigartigen, von der ganzen Welt bedrohten französischen Kultur: „Die gläubigen Muslime ergreifen in völliger Illegalität Besitz vom öffentlichen Raum, um zu beten. Es muss wiederholt werden, dass das Christentum während eineinhalb Jahrtausenden die Religion der Mehrheit, wenn nicht quasi aller Franzosen war. Die französischen Traditionen können nicht solchermaßen lächerlich gemacht werden.“ Mit solch zynischen Vergangenheitsbezügen verteidigt die Partei ihr Vorgehen gegen ein Frankreich, das in seiner Darstellung schon längst zu einem fundamental-islamistischen Gottesstaat verkommen ist.
Doch wie soll man solchen nationalistischen Tendenzen begegnen? Frankreichs Linke ist sich einig: Sie tendiert in Richtung eines „French Dream“ – eine gemeinschaftliche Vision aus den Bedürfnissen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Und doch ist auch hier der Weg zur Geschichtsklitterung nicht weit: Auch Jean-Luc Melenchon, Vorsitzender der französischen Linkspartei, beruft sich in seinen Thesen immer wieder auf die Erzählung der ebenso groß- wie einzigartigen französischen Historie.
Frankreich steckt in einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise. Die Diskussion um die eigene Identität mag als Randnotiz der eigentlichen Probleme erscheinen. Und doch ist sie voraussichtlich die zentralste Achse des kommenden Wahlkampfes, vielleicht auch der kommenden Präsidentschaft. „Nur ein kleines Dorf unbeugsamer Gallier wagt es, dem Eindringling Widerstand zu leisten“ Doch ohne Hilfe des magischen Zaubertrankes wäre das kleine Dorf, selbst unter der Führung des vielbeschworenen Vercingetorix, vor allem eins: Chancenlos. Und sehr, sehr einsam.
Von Jakob Bauer