Heinz Strunk liest im Karlstorbahnhof aus seinem neuen Roman „Jürgen“ und gibt Einblicke in Alltag und Gedankenwelt der viel beschworenen schweigenden Mehrheit.
[dropcap]B[/dropcap]einahe schüchtern betritt Heinz Strunk am 6. Mai im feinen Zwirn die Bühne des restlos ausverkauften Karlstorbahnhofs. In der Sprache eines um Lässigkeit bemühten Hobby-Unterhalters für Konfirmations- und Hochzeitsfeiern begrüßt er sein Publikum auf dem „Dampfer der guten Laune“ und deutet in schnoddrigem Duktus mit regelmäßig verschluckten Wort- und Satzenden bereits in den ersten Minuten an, was er auch in seinem aktuellen Roman „Jürgen“ zum Prinzip erhoben hat: Beinahe virtuos verbaut er in seinen Sätzen Phrase um Phrase, angereichert um die eine oder andere eigene Wortkreation im Stile des „Ravioli-Typs“: weiche Schale, weicher Kern. Dennoch betreibt Strunk nie nur reinen Klamauk. Er macht deutlich, wie er sich bei aller Phrasendrescherei gleichzeitig deren Hohlheit und Perfidität bewusst ist. „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum!“ – aber woher Zeit und Geld dazu nehmen?
In der Einführung in das Milieu seines bereits aus früheren Geschichten bekannten Romanhelden, Jürgen Dose, klärt er en passant, wer das deutsche Äquivalent zum Trump wählenden „White Trash“ in Amerika ist: niemand anderes als eben dieser Jürgen Dose und die anderen Millionen „armer Willis“. Wie Heinz Strunk sich diese Armee der unsichtbaren Durchschnittsmänner vorstellt, zeigt er, indem er sich auf der Bühne kurzerhand selbst in Jürgen Dose verwandelt. Sakko mit Einstecktuch tauscht er gegen Fleece-Pullover und Multifunktionsjacke in Rentner-beige, auf die Perücke Typ „praktischer Kurzhaarschnitt“ pflanzt er das textile Erkennungssymbol der Abgehängten: die Schirmmütze.
In dieser Montur steigt Strunk/Dose in den Roman ein. Dieser schildert aus der Ich-Perspektive Jürgens Leben als etwa 40 Jahre alter Dauersingle in Hamburg-Harburg, der – wenn er nicht als ungelernter Wärter in einer Tiefgarage arbeitet – seine bettlägerige Mutter in der gemeinsamen Wohnung pflegt, oder mit seinem besten Freund, dem übergewichtigen und an den Rollstuhl gefesselten Bernd Würmer, Pläne ausheckt, um endlich eine Frau zu finden. Dabei geizt der Autor nicht mit peinlichen bis offen chauvinistischen „Flirttipps“, die er sich in kräftezehrender Lektüre von Beziehungsratgebern angeeignet hat und verschiedenen Figuren im Roman in den Mund legt. Frauen geraten in den Augen wuchtiger Kneipiers und windiger Partnervermittler zu „reinen Fassadenmenschen“, deren Daseinszweck sich in der Täuschung erschöpfe. Dass das Publikum bei derartigen Zoten nicht in lautstarke Empörung, sondern schallendes Gelächter ausbricht, dürfte vor allem daran liegen, dass Strunks Milieustudie stets eine gewisse Distanz bewahrt, ohne dabei allerdings mit vernichtendem Blick den Moral-Zeigefinger zu erheben. Besonders Jürgen Dose taugt durchaus als Sympathieträger, da er dem Brachial-Sexismus misstraut und eher als allzu leichtes Opfer der Ratgeberliteratur auf den Leim geht und deren Litaneien nachplappert.
Strunk durchsetzt die lebhaft vorgetragenen Romanpassagen mit Kostproben seines sogenannten Konzeptalbums „Die gläserne Milf“, auf dem einzelne Episoden des Romans und insbesondere Jürgens Gedanken anhand bereits bekannter Strunk-Songs reflektiert werden. Gerade diese vom Band eingespielten musikalischen Einlagen, wahlweise von Strunk auf der Querflöte begleitet, sorgen mit Titeln wie „Erschießungsphantasien in Polen“ für eine zuweilen ernste bis verstörende Brechung der ansonsten ausgelassenen Atmosphäre.
Etwas an Attraktivität verliert der Abend indes nach der Pause, als aus der Lesung eine grobe Nacherzählung der übrigen Kapitel wird. Untermalt mit Szenen des die Romanhandlung aufgreifenden Spielfilms „Arme Ritter“ diente die zweite Programmhälfte eher der Bewerbung des im Juni anlaufenden Streifens. Immerhin kehrt Strunk am Schluss des Romans zur Lesung zurück und entlässt seine Zuhörer nach zwei weiteren Songs nicht ohne eine Replik auf die Besprechung „Jürgens“ in der Presse. Nach seinem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten, sozialkritischen Roman „Der goldene Handschuh“ von 2016 hatten einige Feuilletons die Rückkehr Strunks in das seichtere Genre des Unterhaltungsromans bedauert. Statt zum großen Rechtfertigungssermon auszuholen, heißt es nur lakonisch: „Das Schöne ist ja, dass ich das machen kann, wie ich will.“
Von Tillmann Heise