Die Zahl der Abiturientinnen und Abiturienten steigt jährlich. Die Hochschulreife zu erreichen, wird angeblich immer einfacher. Kommen die angehenden Studierenden wirklich mit schlechteren Voraussetzungen an die Uni?
Die Kompetenzen von Schülern/innen im Allgemeinen und Abiturienten/innen im Besonderen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten nicht verschlechtert, sondern sind entweder besser geworden oder gleich geblieben. Das wissen wir aus nationalen und internationalen Studien, die Kompetenzen mittels standardisierter Testverfahren messen, und damit unabhängig von der Notengebung durch Lehrkräfte sind. Der Anstieg bzw. das Beibehalten des Kompetenzniveaus ist auch deshalb bemerkenswert, weil im gleichen Zeitraum die Anzahl der Abiturienten/innen stark angestiegen ist. Wenn jedoch mehr Schüler/innen die Hochschulreife erwerben und ein Hochschulstudium aufnehmen, dann ist die logische Folge, dass die Eingangsvoraussetzungen der Studierendenheterogener und im mittel schlechter werden. Dies liegt jedoch nicht daran, dass die Qualität der Schulen schlechter geworden wäre. Die Schulen in Deutschland haben seit PISA 2000 einen beeindruckenden Prozess der Qualitätssteigerung absolviert. Nun gilt es, dass die Hochschulen mit ihrer Lehre daran anknüpfen.
Die Abiturientinnen und Abiturienten sind durch das G8-System zu unreif für das Studium.
Reife ist ein Begriff aus der Biologie, der suggeriert, dass man nur abwarten müsse, bis sich ein gewünschter Zustand einstellt. Das, was wir von Studierenden erwarten, ist jedoch das Ergebnis aktiver Prozesse. Studierende sollten fachliche und persönliche Kompetenzen erlernt haben. Studien, die die Kompetenzen von Schülern/innen in G8 und G9 verglichen haben, kommen zu dem Schluss, dass beide Bildungswege zu vergleichbaren Ergebnissen führen. Viel wichtiger als das eine Jahr Unterschied ist die Qualität des Unterrichts. Wenn sich alle Beteiligten auf G8 einlassen und den Unterricht entsprechend anpassen, kann G8 genauso gelingen wie G9.
Das Abitur wird immer leichter, dadurch kommt es zu einer Noteninflation.
Studien zeigen, dass es über die Jahre eine Tendenz zu geringeren Abituranforderungen gibt. Gleichzeitig werden bundesweit die Abiturnoten immer besser. Dieser Trend ist jedoch je nach Bundesland unterschiedlich stark und zum Beispiel in Baden-Württemberg nicht vorhanden. An den Noten kann also immer weniger abgelesen werden, welche Kompetenzen jemand besitzt. Unter den Einser-Abiturienten/innen gibt es solche, die hervorragend sind, aber auch solche, deren Kompetenzen mit dieser Note nicht übereinstimmen. Wenn dieser Trend anhält, werden sich Hochschulen und Arbeitgeber/innen langfristig nicht mehr auf Noten verlassen, sondern nach aussagekräftigen Alternativen für Auswahlprozesse Ausschau halten.
Die hohe Abbruchquote unter Studierenden ist durch den früheren Schulabgang bedingt.
In manchen Studiengängen gibt es hohe Studienabbruchquoten, jedoch bei weitem nicht in allen. Vermutlich sind Abiturienten/innen heute tatsächlich unsicherer als früher, was sie studieren wollen. Das dürfte jedoch weniger an G8 liegen, als eher an der massiv angewachsenen Vielfalt an Berufsfeldern und Studiengängen. Versäumnisse sehe ich auch bei den Hochschulen, die sich darauf einstellen müssten, dass nicht mehr handverlesene 20 Prozent einer Alterskohorte ein Studium aufnehmen, sondern rund 50 Prozent. Um der größeren Heterogenität der Studierenden gerecht zu werden, sind neue Lehr-Lernformen und bessere Unterstützungsangebote notwendig.
Birgit Spinath ist Professorin der Pädagogischen Psychologie an der Uni Heidelberg