Tiphaine Rivières Graphic Novel „Studierst du noch oder lebst du schon?“ schildert die Leidensgeschichte einer Doktorandin
[dropcap]D[/dropcap]ie Universität ist ein träges Gebilde, das mit der realen Welt nicht viel gemeinsam hat. Über einen Ort, an dem die zukünftige geistige Elite ausgebildet wird, darf man sich jedoch eigentlich nicht beschweren. Doch was man nicht sagen darf, kann man immerhin malen. Tiphaine Rivières Graphic Novel „Studierst du noch oder lebst du schon?“ ist eine bitterböse Abrechnung mit der Institution Uni. Schonungslos prangert Rivière die Missstände des Hochschulsystems an, des französischen wohlgemerkt. Kann der deutsche Student deshalb bei der Lektüre genüsslich über den Gartenzaun blicken, um zu beobachten, was beim Nachbarn alles falschläuft? Keineswegs, denn die Probleme machen nicht an der Landesgrenze halt.
Dabei bietet die Uni so viele Chancen, davon ist jedenfalls Rivières Protagonistin Jeanne Dargan überzeugt. Voller Euphorie stürzt sich die Literaturstudentin in ihre Promotion. Selbst als sich alles gegen Jeanne wendet, steckt sie ein, was von überall auf sie einprasselt: Die Institutssekretärin ist chronisch unmotiviert, ihr Freund zunehmend genervt und die ahnungslose Familie hält den hermeneutischen Zirkel wohl für ein Zeichengerät aus dem Matheunterricht. Die Doktorarbeit ihres Cousins begeistert hingegen, denn der forscht ja „in einem echten Labor“.
Auch ihr Doktorvater leistet nicht die erhoffte Unterstützung, sein Motto: Lächeln und zu allem Ja sagen. Später stellt er fest: „Ein Doktorand ist eigentlich so ähnlich wie ein Cockerspaniel, der zu wenig Zuneigung bekommt.“ Ein wenig Kraulen, dann fühlt er sich wohl. Rivières Charaktere sind bewusst eindimensional gehalten und bedienen Klischees. Doch was zunächst ein wenig naiv anmutet, ist nicht nur lustig, sondern auch wahr. Deshalb bleibt angehenden Doktoranden das Lachen oft im Hals stecken. Vor allem, weil Rivière die kleinen Dinge des Studentendaseins stets präzise auf den Punkt bringt. So pointiert wie bei Rivière wird man selten mit Stereotypen konfrontiert. „Wer ist denn dieser alte Typ?“, fragt sich Jeanne verdutzt, als ein Gasthörer sie mit unbequemen Nachfragen in die Bredouille bringt.
Rivières Bildsprache ist poetisch und metaphorisch. So werden die Studenten im Hörsaal mal als Tiger, mal als zahme Kätzchen dargestellt. Die Autorin zeichnet schnörkellos und mit Liebe zum Detail. Dies zeigt sich etwa in den wechselnden Postern, die die Bürowände zieren: „Das Lachen bei den deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts“ heißt es über einem Bild des Berufspessimisten Arthur Schopenhauer. Tatsächlich gibt es für Jeanne nur wenig zu lachen, denn ihre Promotion geht eher schleppend voran.
[dropcap]D[/dropcap]as ist wie der Bau eines riesigen Schlosses, mit ganz vielen Kuppeln, die man nur richtig anordnen muss: Das Thema ändern, die Gliederung überarbeiten, wieder das Thema ändern. Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. Währenddessen amüsiert sich ihr Freund, ein Jurist, breitgrinsend im Wohnzimmer mit einer Spielzeugdrohne. Jenes Weihnachtsgeschenk, das Jeanne nur an die blöden Fragen erinnert, die ihr die Familie immer und immer stellt: Wann bist du fertig? Und was machst du dann danach? Das kommt vor allem Geisteswissenschaftlern sicherlich bekannt vor.
Was kann schon dran sein an Kafkas Türhüterparabel? Den Reiz der verschiedenen Deutungsmöglichkeit vergleicht ihr Vater lapidar mit dem Filmegucken. Ihn nerve es im Kino auch immer, wenn das Ende offen bleibt. Die Hartnäckigkeit, mit der Jeanne trotzdem Woche für Woche Literatur wälzt, macht sie zum Sympathieträger. Ihr Traum ist die Wissenschaft, das Geld erst einmal Nebensache. An der Uni ist es bekanntlich stets knapp und ja eigentlich auch nicht das Wesentliche. „Ich unterrichte zwar wie eine Hochschuldozentin, werde aber mit einem mit einem prekären Hungerlohn abgespeist“, verkündet Jeanne stolz und grinst dabei wie ein Honigkuchenpferd.
So ist schon nach einem guten Viertel des Comics klar: Ein Happy End kann es für Jeanne gar nicht geben. Auch ihrer promovierenden Leidensgenossin widerfährt in dieser Hinsicht wenig Gutes, weil ihr Mitbewerber an den Regeln des humanistischen Bildungsideals vorbei einfach „eine Professorin aus der Kommission vögelt, damit die Stelle auf ihn zugeschnitten wird“.
Was als harmlose Geschichte beginnt, entwickelt sich bald zu einer Fundamentalkritik am Bildungs- und Wertesystem, die zentrale Fragen aufwirft. Zum Beispiel, was Forschung überhaupt bewirken soll. „In Zeiten der Krise brauchen wir Ergebnisse“, lässt Rivière eine Ministerin sagen. Schon auf der nächsten Seite demonstrieren Wissenschaftler auf der Straße: „Forschung und Wissenschaft sind keine Handelswaren“, skandieren sie. Das ruft unmittelbar Veranstaltungen wie den „March for Science“ ins Gedächtnis, bei dem Forscher vor kurzem auf ihre Rolle für die Gesellschaft aufmerksam machten.
Die großen Bildungsfragen schimmern bei Rivière zwar stets durch und heben den Roman auf ein höheres Niveau, gehen jedoch nie auf Kosten der persönlichen Leidensgeschichte. Ein bisschen Rivière steckt zweifellos in Jeanne, die Autorin brach ihr Literaturstudium ab und begann als Comic-Zeichnerin zu arbeiten. Mathilde Ramadiers Übersetzung gelingt, es die Atmosphäre authentisch ins Deutsche zu übertragen, auch wenn sie nicht frei von Fehlern ist.
Der deutsche Titel „Studierst du noch oder lebst du schon?“ wird dem Original („Carnets de Thèse“) jedoch nicht gerecht und sortiert das Buch zum Zwecke des Marketings in die falsche Schublade ein. Ein Doktorand ist eben kein Student. Das ist ärgerlich, ändert aber nichts daran, dass Rivières Graphic Novel ein gezeichneter Bildungsroman ist, der auf der Literaturliste potentieller Doktoranden nicht fehlen darf.
Jesper Klein
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Tiphaine Rivière: Studierst du noch oder lebst du schon?
Aus dem Französischen von
Mathilde Ramadier,
Knaus Verlag,
19,99 Euro.
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