In Rumänien versuchten Politiker sich durch ein Gesetz der Justiz zu entziehen und lösten damit Massenproteste aus. Der Konflikt zwischen Demonstranten und Regierung brodelt
Der kommunistische Diktator Nicolae Ceauşescu hinterließ nach seinem Sturz 1989 Rumänien zwei Dinge: Den monströsen Parlamentspalast im Zentrum Bukarests und eine lange Tradition der Korruption. Letztere wird vor allem in der Regierung des Landes immer wieder zum Problem – die Bevölkerung setzt jedoch seit Januar mit Massenprotesten im ganzen Land ein Zeichen gegen die weitreichende Korruption in Rumänien.
Nach den Parlamentswahlen im Dezember 2016 wurde am 4. Januar das neue Regierungskabinett, bestehend aus einer Koalition der sozialdemokratischen PSD und der liberalen ALDE, unter Ministerpräsident Sorin Grindeanu vereidigt. Doch die neue Regierung war noch keine zwei Wochen alt, als erste Gerüchte über ein Regierungsdekret durch die Medien gingen. Das Dekret sollte das Strafgesetz so abändern, dass wegen Amtsmissbrauch verurteilte Beamte teilweise begnadigt würden. Allein die Gerüchte reichten aus, um in Bukarest erste Proteste auszulösen. „Wie pisst man Rumänen richtig an? Versuch es mal damit, die Anti-Korruptionsgesetze zu schwächen und korrupte Beamte zu begnadigen“, kommentierte die rumänische Twitter-Nutzerin Sabina die Demonstrationen.
How to really piss off Romanians? Weaken #anticorruption laws and pardon corrupt officials. #romanianprotests #rezist #insist pic.twitter.com/kVuYYVaAv4
— Sabina Ciofu (@SabinaCiofu) May 3, 2017
Die Proteste breiteten sich wie ein Lauffeuer über ganz Rumänien aus. Auf Twitter und anderen sozialen Netzwerken organisierte man sich unter dem Hashtag #rezist, wodurch sich die Proteste schnell zu den größten seit Ceauşescus Sturz entwickelten. Sogar der rumänische Präsident Klaus Iohannis nahm an ihnen teil. In der semipräsidentiellen Republik stellt er das Funktionieren der Regierung und der Verfassung sicher. Während seines Wahlkampfs 2014 setzte sich Iohannis unter anderem mit dem Versprechen, hart gegen die Korruption vorzugehen, beim rumänischen Volk durch. Doch selbst Demonstrationen solchen Ausmaßes hielten die Regierung nicht davon ab, das Dekret bei einer Budgetbesprechung am 31. Januar zu verabschieden, ohne es jedoch vorher auf die offizielle Agenda gesetzt zu haben.
Die heftige Reaktion der Demonstranten, welche aus allen sozialen Schichten und Teilen des Landes stammten, ist ein deutlicher Indikator für die tiefgreifende Frustration der Bevölkerung. „Jede Art von Fortschritt wird dadurch ausgebremst“, erzählt Sebastian, der bei der Banca Transilvania in Bukarest arbeitet. Nach Ceauşescu wurden immer wieder große Pläne geschmiedet, wie etwa das U-Bahnnetz auszubauen, aber ohne Ergebnisse. „Selbst wenn ausländische Investoren versuchen etwas auf die Beine zu stellen, verschwindet das Geld früher oder später.“ Unbeendete Bauprojekte, fehlender Ausbau der Infrastruktur und mangelnde Erdbebensicherheit sind jedoch nur die sichtbarsten, aber nicht die einzigen Symptome der Korruption in Rumänien. Fast jeder Aspekt des öffentlichen Lebens ist davon betroffen. „Im Verwaltungssystem, im Gesundheitssystem – einfach überall. Beim Arzt bekomme ich nur einen Termin, wenn ich Geld anbiete, oder ihn über einen Freund vermittelt bekomme“, sagt George, der in Bukarest Politik studiert.
Transparency International, eine NGO, welche Daten über das Ausmaß an Korruption in 176 Ländern sammelt, setzte Rumänien auf Platz 57 – für ein Mitglied der Europäischen Union ein vernichtendes Urteil, das auch Rumäniens Status in der EU beeinflusst. Nach dem Beitritt 2007 richtete die Europäische Kommission ein Kontrollverfahren ein, um unter anderem das Justizsystem zu stärken und Korruption zu bekämpfen, doch selbst zehn Jahre später sind nicht alle Bedingungen erfüllt. Besonders Studierende und junge Berufseinsteiger sind von der Situation in Rumänien frustriert und reagierten aufgebracht auf den Versuch der Regierung, die Kontrollmechanismen für Korruption weiter zu schwächen.
Liviu Dragnea, der Parteivorsitzende der sozialdemokratischen PSD, verteidigt das Dekret vehement. Seine Begründung: Die Begnadigung von aufgrund von Korruptionsdelikten Verurteilter soll dazu beitragen, das Problem der Überbelegung in rumänischen Gefängnissen zu beheben und so EU-Richtlinien zu erfüllen. Kritiker und NGOs sind jedoch der Meinung, dass eine Begnadigung aller wegen Amtsmissbrauch verurteilten Beamten, die den Staat um weniger als 44 000 Euro geschädigt haben, keine effektive Maßnahme sei. Einflussreiche Politiker wie Dragnea selbst, dessen Wahlbetrug 2012 den Staat 24 000 Euro kostete, würden hingegen enorm von dem Dekret profitieren – was bei der Bevölkerung nicht auf Gegenliebe stieß.
Der Mangel an Transparenz, der die Situation umgab und die Eile, die Dragnea hatte, das Regierungsdekret noch vor seinem Prozess umzusetzen, musste laut Anastasia, einer rumänischen Studentin, zu Massenprotesten führen: „Die Leute fühlen sich betrogen und wollen nicht noch mehr Korruption, die sich als Demokratie verkauft.“
Auf den landesweiten Demonstrationen und Kundgebungen wurde die Regierung nicht nur dazu aufgefordert, das Dekret zurückzuziehen, sondern auch Rufe nach einem Rücktritt der Regierungskoalition wurden laut. „Wir müssen immer weiterkämpfen“, sagt Georgiana, die selbst an den Protesten teilnahm. „Rumänien ist weit davon entfernt das Korruptionsproblem zu lösen. Schon gar nicht mit dem Grindeanu-Kabinett.“ Am 5. Februar, nur wenige Tage nachdem das Dekret verabschiedet wurde, schien das Ziel der Protetste zunächst erreicht: Grindeanu zog das Regierungsdekret zurück. Doch Demonstranten verlangten weiterhin einen Rücktritt des jungen Kabinetts und waren auch nicht besänftigt, nachdem der Justizminister abdankte. Ein von den Oppositionsparteien in die Wege geleitetes Misstrauensvotum im Parlament überstand Grindeanus Regierung ohne Konsequenzen, da auch hier die Koalition die Mehrheit der Plätze einnimmt.
Anfang Mai war die Innenstadt Bukarests schon wieder im Ausnahmezustand, als der Rechtsausschuss des Senats seine Zustimmung zu einer leicht veränderten Version des Dekrets gab. Doch auch diesmal setzten sich die Demonstranten erfolgreich durch: Nach 24 Stunden zog der Senat seine Zustimmung für den Vorschlag der PSD wieder zurück. Am darauffolgenden Tag erhielt die Regierung, in erster Linie Dragnea, einen weiteren Schlag, als das Verfassungsgericht urteilte, dass weiterhin keine Vorbestraften das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen dürfen. Dieses Gesetz verhinderte bei der Wahl 2016 die von Dragnea angestrebte Nominierung zum Ministerpräsidenten.
Eine erfolgreiche Revolution, wie viele Nutzer auf sozialen Netzwerken das Ergebnis der Proteste nennen, wird in Rumänien jedoch nicht gefeiert. „Die Politiker werden vorsichtiger sein“, meint Iuliana, die in Bukarest Jura studiert hat und jetzt bei einer Reisewebsite arbeitet, „aber die Demonstrationen werden sie nicht lange davon abhalten, ihre eigenen Interessen zu verfolgen.“ Einig sind sich aber viele bei der Tatsache, dass der Erfolg der Proteste einen positiven Einfluss auf die Einstellung der Menschen zu politischem Engagement haben wird. „Vor 28 Jahren hat Rumänien Ceauşescu gestürzt“, sagt Anastasia. „Sie wollen beweisen, dass sie immer noch genauso stark sind wie damals – und dass sie ein Recht auf Gerechtigkeit haben.“
Von Viola Heeger