Joseph Goebbels reiste 1935 eigens zur Eröffnung an: Auf dem Gipfel des Heiligenbergs verbirgt sich mit der Thingstätte ein Zeugnis der frühen NS-Ideologie
„Mit ganz besonderer Freude und mit tiefem Stolz ergreife ich am heutigen Abend vor Ihnen das Wort, und ich spreche an einer Stelle, die den Ideen unserer Bewegung entsprungen, die in ihrer heutigen Vollendung steingewordener Nationalsozialismus ist.“ Mit der obligatorischen Portion Pathos eröffnete Joseph Goebbels, der wahrscheinlich unrühmlichste Heidelberg-Alumnus, am 22. Juni 1935 die sogenannte Thingstätte auf dem Heiligenberg.
Zuvor hatten gut 1200 Arbeiter, darunter zahlreiche Heidelberger Studierende, im Schichtbetrieb Tag und Nacht buchstäblich keinen Stein auf dem anderen gelassen. Auch damals hatte man offensichtlich seine liebe Not mit pünktlichen Großprojekten: Weil sich das Gestein des Berges als ungeahnt widerspenstig entpuppte, musste man ihm mit über 30 000 Sprengungen zu Leibe rücken. Aus den veranschlagten zwei Monaten Bauzeit wurde ein gutes Jahr.
Was bewegte die Stadt aber überhaupt dazu, an diesem denkbar ungünstig zu erreichenden Fleck mitten im Wald hoch über dem Neckar ein Freilufttheater für circa 15 000 Menschen zu errichten? Ein Hinweis verbirgt sich in dem noch heute gebräuchlichen Namen der Steinschüssel: Als „Thing“ bezeichnete der römische Geschichtsschreiber Tacitus in seiner sämtlichen Lateinschülern wohl engstens vertrauten Germania einen Brauch von Germanenfürsten, sich zur Beratung unter freiem Himmel im Kreis niederzulassen. In ihrer anfänglichen Germanenbegeisterung luden die Nazis den Begriff propagandistisch auf und riefen 1933 die sogenannte „Thingbewegung“ ins Leben.
In landschaftlich reizvoller Umgebung sollte in noch zu schreibenden „Thingspielen“, im Prinzip pathetischen Theaterinszenierungen mit vielen Fackeln und Massenchören, die Einheit der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ zelebriert werden. Neben dem erhabenen Blick über die Rheinebene eignete sich der Heiligenberg auch durch seine Vergangenheit als keltischer Siedlungsplatz und Heimat zweier mittelalterlicher Klöster ganz hervorragend für die Vereinnahmung durch die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie.
Von den ursprünglich 400 im ganzen Reich geplanten Thingstätten wurden 70 tatsächlich realisiert. Im Oktober 1935 wurde die Thingbewegung allerdings kurzerhand wieder eingestampft, mit der Begründung, der Nationalsozialismus sei zu fortschrittlich für mythologisierten Firlefanz im Wald. Die Wahrheit dürfte anders gelagert sein. Die wenigen in der Zwischenzeit entstandenen Thingspiele waren schlicht und ergreifend so schlecht, dass die beabsichtigte ekstatische Verschmelzung von bis zu tausend Bühnendarstellern und Publikum ausblieb. Auch die bei der Eröffnung noch gefeierte, sündhaft teure Lautsprecher- und Lichttechnik auf der Anlage war offensichtlich nur für Schönwetter-Propaganda ausgelegt. Nach wenigen Wochen und einigen Regengüssen wurde sie stillschweigend wieder abgebaut.
Ihrer ursprünglichen Funktion beraubt, wurde die Thingstätte spätes- tens seit 1945 als unliebsames braunes Erbe ihrem Schicksal überlassen, gelegentlich für größere Open-Air-Konzerte benutzt, rottete ansonsten aber bis zur umfassenden Sanierung Mitte der 1980er-Jahre vor sich hin. Abgeschiedenheit und dürftige Erschließung erschweren immer noch, dass die Thingstätte in ihrer äußerst problematischen Bedeutung als ideologische Säule des frühen NS-Regimes wahrgenommen wird. Wenn heute wieder tausende Menschen mit Fackeln die steinernen Ränge bevölkern, dann für gewöhnlich, um in der Walpurgisnacht böse Geister zu vertreiben.
Von Tillmann Heise