„Freude, Alkohol und Sex“ als Stimmungsideal: T. C. Boyle stellte seinen neuen Bestseller in der halle02 vor. Der US-Amerikaner gewann das Publikum mit Witz und Verstand für sich – sein Buch selbst bietet derweil weder das eine noch das andere.
In schwarzem Anzug und knallroten Chucks präsentierte Boyle Die Terranauten – die auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte von „Ecosphäre II“, ein in den 1990er-Jahren in Arizona entwickeltes NASA-Projekt. Unter dem strikten Gebot „Nichts rein, nichts raus“ zielte das bereits nach zwölf Tagen abgebrochene Programm darauf ab, eine ökologisch unabhängige Welt zu schaffen, betreut von einem sorgfältig ausgewählten Team von Wissenschaftlern. Nun macht sich Boyles Roman dieses Scheitern zunutze und zeigt ein Nachfolge-Team während seines zweijährigen Aufenthaltes unter Verschluss – und inmitten eines 1,3 Hektar großen Geländes, tausender Tierarten und der Blicke eines globalen Publikums. „Um eine neue Welt zu erschaffen und rauszufinden, ob sie besser funktioniert als unsere“, erklärt Boyle seine Prämisse und deutet auf die Gefahren einer globalen Erwärmung hin. Denn in Zeiten der Trump-Administration und des von ihr bestrittenen Klimawandels sei eine solche Vorstellung zunehmend attraktiver zu werden. „The world’s turning into Scheiße“, schlussfolgert der US-Amerikaner lachend.
Ein solches Konzept, welches dem Autor zufolge „einfach nicht wegzugehen scheint“, verliert in der Tat nicht an Aktualität: Seien es Reality-Shows wie „Big Brother“, das „Dschungelcamp“ oder Projekte wie das „Mars One“-Programm – unsere Kultur scheint geradezu besessen von einem Separationsgedanken zu sein; von der Idee einer neuen Welt, die unberührt und unberührbar ist und uns doch ihren Voyeur spielen lässt. Gemäß Jean-Paul Sartres berühmten Satz „Die Hölle, das sind die anderen“ verspricht Boyle mit seinem Einstiegszitat jedoch mehr als nur ein Dschungelcamp: Vielmehr lässt seine Geschichte auf eine clevere Analyse von Gesellschaften, Machtbeziehungen und dem Menschsein hoffen. Und doch haben nur noch Sonja Zietlows und Daniel Hartwichs Kommentare gefehlt, um dieses Buch in seiner Bedeutungslosigkeit zu überbieten.
Denn was der vielversprechenden Idee folgt, ist eine 500-seitige Odyssee der Belanglosigkeiten; neben unzähligen wissenschaftlichen „Fun Facts“, die sich in der Überflüssigkeit verlieren, sind es Boyles Charaktere, die eine sinnvolle Handlung behindern.
Die Team-Mitglieder Dawn Chapman und Ramsay Roothorp sowie die gescheiterte Bewerberin Linda Ryu sind Protagonisten, deren Stumpfsinn und Unausstehlichkeit jegliche Identifikationsfläche zerstören. Das allein wäre ja auch gar nicht so schlimm – schließlich muss nicht jeder Charakter Latte Macchiato-schlürfend und twitternd durch die Gegend laufen, um als „#relatable“ zu gelten. Wie selbst Boyle 1990 in einem Interview mit der New York Times kommentiert: „Es stimmt, dass keiner meiner Charaktere bewundernswert ist. Doch vielleicht bin ich ein Satiriker und die Aufgabe eines Satirikers ist es, Dinge aufzuzeigen, die nicht bewundernswert sind.“ Dass Protagonisten keineswegs sympathisch sein müssen, um fantastisch funktionieren zu können, stellte der PEN/Faulkner-Preisträger nicht zuletzt durch Geschichten wie „América“ und „She Wasn’t Soft“ unter Beweis: Deren beißende Gesellschaftskritiken zeichnen sich gerade durch die moralische Ambivalenz ihrer Figuren aus. Doch Boyles sechzehntes Buch schafft das nicht. Seine Protagonisten weisen keine der komplexen Charakterzüge auf, die ihre Vorgänger so einprägsam machten. Stattdessen liefern sie ewig andauernde und sich wiederholende Monologe über Eifersuchten und ihr Sexleben, während ihr Problem bestehen bleibt: Sie sind zu flach und sie sind zu schwach und brechen so beim Tragen der verwirrten Handlung kläglich in sich zusammen.
Denn der Fokus der Geschichte wird bis zum Ende des Buches nicht klar. Mal werden die Kandidaten mit biblischen Figuren verglichen, um kurz einen religiösen Kommentar einzuwerfen; im nächsten Moment wird der Umgang der Presse angeschnitten, bevor sich plötzlich das Thema Abtreibung in die Runde wirft. Es ist, als ob Boyle immer wieder Ideen auf eine Serviette kritzelt, die er dann aber vergisst zu Hause auszuformulieren. Dieser fehlende Fokus spricht für das gesamte Werk: „Die Terranauten“ will viel, aber tut nicht wirklich etwas dafür. Die einst so vielversprechende Prämisse bietet keinerlei Denkanstöße oder Unterhaltungswert. Wie bei einer Folge des „Dschungelcamps“ zerschlagen Banalitäten interessante Konzepte. Und wie bei einer solchen Folge besteht wohl die beste Lösung darin, abzuschalten.
Von Sonali Beher