China fasziniert, frustriert und beeindruckt. Eine Annäherung in fünf Episoden
Hätte meine Beziehung zu China einen Facebook-Status, dann wäre er wohl: „Es ist kompliziert.“ Aber in China gibt es keinen freien Zugriff auf Facebook, genauso wenig wie auf Google, Twitter, Youtube und Co. und damit sind wir auch schon genau beim Thema: China macht es dir nicht einfach. Und genauso wenig sollte man es sich mit China einfach machen. Ich reagiere inzwischen sehr allergisch auf die meisten Reiseführer, „Insiderguides“ und Kulturschockbüchlein, die unter dem Deckmantel der Kulturvermittlung die immer gleichen Klischees reproduzieren. Klischees, die niemandem weiterhelfen, keine neuen Erkenntnisse liefern und China auf ein paar vereinfachte Bilder herunterbrechen. So macht man das dort, heißt es dann, so sind „die“ Chinesen, so muss man sich anpassen, wenn man da Erfolg haben will. Positives Chinabild: Grinsende Pandas, schöne Kalligrafie, duftende Teeblätter und im Hintergrund die Große Mauer. Negatives Chinabild: im Smog verblassende Großstädte, verseuchte Lebensmittel, gesichtslose, gefügige Arbeitermassen und dreckige Flüsse. Eine oft einseitige, überwiegend negative Berichterstattung zementiert diese Klischees weiter. Wie bei allem liegt die Realität irgendwo dazwischen. Ich wage eine Annäherung an dieses komplexe, widersprüchliche und facettenreiche Land über subjektive Eindrücke.
Im Sandsturm
Die Terrakottaarmee in Xi’an wird auch als das Achte Weltwunder bezeichnet. Vor über 2000 Jahren hat sich der erste chinesische Kaiser eine riesige Armee aus Tonkriegern errichten lassen, die ihn im Jenseits noch beschützen sollten. Eine der eindrucksvollsten Grabstätten der Welt. An dem Tag, an dem wir sie besichtigen wollen, gibt es einen Sandsturm. Als ich meine Luftqualitäts-App checke, steht da „smog level beyond index“. Eine PM2.5- Konzentration von 550 μg/m³ wird gemessen, das sind winzige gesundheitsschädliche Feinstaubpartikel, die sich in der Lunge festsetzen. Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) sieht bei einer dauerhaften Aussetzung ein jahresdurchschnittliches Maximum von 25 μg/m³ PM2.5 vor. In Heidelberg liegen die Messwerte meist deutlich unter diesem Richtwert. Die Feinstaubbelastung der etwas größeren PM10 liegt an dem Tag laut App bei 1300, statt der empfohlenen 10 µg/m³. Das 130-fache des WHO-Werts. Was heißt das denn überhaupt? „Wir atmen Lungenkrebs“, sagt meine Freundin. Vielleicht hat sie Recht, keine Ahnung. Außer uns trägt quasi niemand eine Atemmaske. Wissen sie es nicht, ist es ihnen egal? Ich kann die Resignation im Umgang mit Smog und Luftverschmutzung nicht nachvollziehen. Wieso sind die Leute nicht wütender? In China sterben jährlich weit über eine Million Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung. Natürlich ist nicht jeden Tag Smog. Der Himmel über Peking kann auch strahlend blau sein, insbesondere wenn wichtige politische Treffen stattfinden. Im Jahresdurchschnitt liegt die
PM 2.5-Konzentration zwischen 70 und 130 μg/m³, je nach Quelle und Messmethodik. Allerdings haben Chinas Umweltschäden das jährliche Wirtschaftswachstum inzwischen überschritten – und die Regierung weiß das auch. Nicht ohne Grund ist die Volksrepublik inzwischen der weltweit größte Investor in erneuerbare Energien, hat kürzlich eine Quote für Elektroautos eingeführt und steht hinter dem Pariser Klimaabkommen. Wenn aber der Luftfilter nachts so laut läuft, dass Schlafen nicht möglich ist, die alte Frau in der U-Bahn neben mir Blut hustet und das Kind am Fahrradrücksitz mit jedem Atemzug wohl ein paar Lebensstunden verliert, wird schmerzlich bewusst, wie weit der Weg zurück zur sauberen Luft noch ist.
Tanzen im Park
„Stellt euch China wie einen Kontinent, nicht wie ein Land vor“, sagte eine Professorin in einer meiner Vorlesungen im ersten Semester. Nach Italien ist China weltweit das Land mit den meisten UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten. Jahrelang könnte man hier rumreisen und hätte doch noch nicht alles gesehen. Buddhistische Grotten, heilige Berge, Felstempel, Eisstädte, Wüstenlandschaften. Auch Chinas geistiger Reichtum reicht über die hierzulande verbreiteten konfuzianischen Glückskekssprüche weit hinaus. Literatur, Kunst, Film, geschichtliche Werke, Oper – nur ein Bruchteil davon ist im Westen bekannt. Auch die junge chinesische Kunstszene pulsiert: innovative, radikale Künstlerinnen und Künstler, die ihr Land und die Welt kritisch und reflektierend beleuchten.
Die jahrtausendalte Kultur reicht noch bis in den gegenwärtigen Alltag hinein. Etwa in den öffentlichen Parks, in denen sich abends die älteren Menschen zum Tai Chi, Opernsingen oder Tanzen treffen. Die meisten begegnen Ausländerinnen und Ausländern mit einer neugierigen Offenheit. Mittanzende sind immer willkommen.
Überfülltes Paradies
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Im Himmel gibt es das Paradies und auf Erden Hangzhou und Suzhou.“ Hangzhou gilt als eine der schönsten Städte Chinas, malerisch am Westsee gelegen, zugleich eine florierende Technologiehochburg und zuletzt Gastgeber des G-20 Gipfels. In der ersten Oktoberwoche feiert man in China die Gründung der Volksrepublik 1949, eine Woche Nationalferien, die sogenannte „Golden Week“. Eine gute Zeit zum Reisen, denke ich mir. 589 Millionen Menschen denken dasselbe. Laut der chinesischen Regierung erreichte die Zahl der Reisenden im vergangenen Jahr ein Rekordhoch. Dass es voller werden kann, haben wir gehört, aber was uns in Hangzhou erwartet, ist Irrsinn. Verkehrskollaps in den Straßen, ein Taxi zu finden scheint unmöglich. In einem beliebten Restaurant ziehen wir die Nummer 167, die Wartezeit könnte Stunden betragen. Die Seeufer sind vor lauter Menschen teilweise nicht mehr erkennbar.
Reisen in China macht geduldig – zwangsweise. Wer nicht mit der nötigen Geduld und Flexibilität unterwegs ist, wird früher oder später wütend, verzweifelt oder resigniert bei Starbucks enden und sich schwören, nie wieder irgendwo freiwillig hinzufahren. Manchmal werden Flüge wegen des Smogs gecancelt, ohne dass für adäquaten Ersatz oder Übernachtung gesorgt wird. Züge stehen zuweilen stundenlang in der Landschaft, ohne dass man gesagt bekommt, was los ist. Hotelbuchungen werden manchmal nicht gefunden, oder es stellt sich spontan heraus, dass man als Ausländerin in der gebuchten Unterkunft doch nicht übernachten kann. Trotzdem – die ungewöhnlichsten Menschen trifft man unterwegs, die besten Gespräche und eindrücklichsten Erfahrungen hat man während des Reisens. Und Einsamkeit kann man trotzdem finden – abseits der normalen Touristenpfade. Da wo Seilbahnen, Busse und Schnellzüge nicht hinfahren, wo man selbst ein bisschen laufen muss und wo die Wege verwachsener und unbegangener sind.
Begegnung im Zug
Ich sitze im Schnellzug zurück nach Peking, wir fahren über 300 Kilometer in der Stunde. Mein Sitznachbar ist ein älterer Chinese, gut gekleidet und mit Aktentasche, wir nicken uns freundlich zu, als er sich setzt. Dann beginnt er in voller Lautstärke Videos zu schauen und ich beginne ihm weniger freundliche Blicke zuzuwerfen. Das stört ihn aber nicht. Nach einiger Zeit kommen wir ins Gespräch. „Deutschland, das beste Land Europas“, seine Augen leuchten, als er hört, woher ich komme. Es ist kurz nach der Präsidentschaftswahl: Ich frage ihn, was er von Trump hält, er spricht vom konfuzianischen Gleichgewicht und Chinas Potential und hat Geduld mit meinem gebrochenen Chinesisch. Nebenbei schiebt er mir hauchdünnes Sesamgebäck rüber. Spezialität der Region. Dann Erdbeerbonbons. Als der Zug kurz hält, steigt er wortlos aus. Und kommt mit einem ganzen gekochten Huhn in einer Plastikdose wieder. Krallen, Kopf und Eingeweide inklusive. „Gutes Fleisch“, sagt er und schiebt mir einen Plastikhandschuh – statt Besteck – hin. Dass ich Vegetarierin bin, versteht er nicht. „Aber doch nicht in China“, sagt er kopfschüttelnd und steckt sich ein Stück vom Flügel in den Mund.
Kurz bevor wir aussteigen, gibt er mir seine Visitenkarte. „Director of the China General Nuclear Power Cooperation”, steht da. Der Mann ist für eine Vielzahl der Atomkraftwerke in China verantwortlich. Dann sind wir da, die Verabschiedung verliert sich im Ankunftschaos. Ich sehe ihn noch kurz auf der Rolltreppe, bedanke mich innerlich für seine Freundlichkeit und gehe Richtung Ausgang.
Beziehungsprobleme
Wenn ich glaube, dieses Land nun endlich doch zu verstehen, wirklich zu kennen, dann dreht sich China um und macht irgendwas Befremdliches und ich bin wieder so ratlos wie am Anfang. China macht es dir nicht einfach. Wie eine spannende, faszinierende Person, deren Abgründe und Ambivalenzen dir Bindungsangst machen und dich zweifeln lassen, ob ihr beide doch zusammen passt. Seit Jahren haben wir unsere Beziehungshöhen und –tiefen. Aber wenn ich mal wieder kurz davor bin, schlusszumachen, dann lächelt mich China wieder an: Versuchen wir‘s nochmal?
Von Dorina Marlen Heller
Danke für diesen persönlichen, emotionalen und kritischen Artikel über den China Aufenthalt. Mein Bild ist diffus. Wie authentisch wird aus China berichtet, was lässt sich zwischen den Zeilen lesen, über die Menschen in diesem großen Land? Köstlich finde ich die Zeilen über das Angebot des gekochten Huhns.