Wie wäre es mit einer Auszeit im Mittelalter? Ein Gastbeitrag über Living History
In einer durchtechnologisierten Welt, in der die Prämissen der ständigen Erreichbarkeit und des Leistungsdrucks gelten, muss sich der Mensch bewusst Inseln der Ruhe schaffen, um nicht nur physisch sondern auch psychisch ausgeglichen zu sein. Eine etwas exzentrische Möglichkeit: Reenactment.
Reenactment ist die Darstellung einer historischen Epoche durch Kleidung und Ausrüstung, eine Art „Living History“, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Living-History-Gruppe „Danelag“, die sich auf Wikingerdarstellungen zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert spezialisiert hat, bietet diese Möglichkeit. Historisches Handwerk, Kampfkunst und Lagerleben gehören dazu. Die Frauen tragen dabei traditionelle Kleidung aus Leinen- und Wollschürzenkleid, die Männer Tunika, Wollhose und Wadenwickel. Gewohnt wird in Zelten oder nordischen Langhäusern, wie man sie beispielsweise in Wallsbüll bei Flensburg findet.
Langhäuser waren im deutschen und skandinavischen Gebiet die typischen Schlaf- und Wohnräume vom 7. bis zum 11. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um längliche Gebäude mit jeweils einem Eingang an den Wandseiten und zwei großen Feuerstellen im Inneren. Die Schlafstellen liegen erhöht auf Holzbühnen an den Wänden — ausgerichtet auf die beiden Feuerstellen. Nicht mal eben schnell Whatsapp checken oder einen neuen Snap schicken. Es gilt Feuer zu machen, das Lager zu bereiten oder Kleidung auszubessern. Das Tageslicht wird ausgenutzt, denn elektronisches wird nicht verwendet, selbst wenn es vorhanden ist.
Die Prioritäten sind ganz andere: ist es sonst ärgerlich, keinen WLAN-Empfang zu haben, sind ein trockener Rocksaum und Strümpfe wichtiger. Denn es ist ein ursprüngliches Leben, bar jedes Firlefanzes, mit dem wir ansonsten im Alltag überflutet werden. Deshalb herrscht wohl auch eine stets so hilfsbereite und gelassene Atmosphäre bei Reenactment- Treffen. Man achtet auf seine Mitmenschen, arbeitet und feiert zusammen, zum Beispiel die Hochzeit zweier Mitglieder der Living-History-Gruppe.
Es wird auf das Brautpaar angestoßen, wobei auch die überirdischen Mächte, allen voran der Göttervater Odin, nicht zu kurz kommen: ein Krug mit Met wird zerschlagen und ihm so als Dank dargebracht.
Nach der außerordentlichen Zeremonie beglückwünscht jeder der Gäste das Brautpaar: alte Freunde und neue gleichermaßen. Danach isst man zusammen gekochte Suppenhühner. Nach Einbruch der Nacht, wenn alle im Langhaus beisammensitzen, lässt die Gruppe einen weiteren ungewöhnlichen Brauch aufleben. Die frisch angetraute Braut wird von einigen Männern der Gruppe entführt. Der Ehemann hat dann zwei Möglichkeiten: Zweikampf gegen das Sippenoberhaupt oder Feilschen. In diesem Fall muss der Bräutigam das halbe Gewicht seiner Braut in Schnaps aufbringen.
Die drei, obwohl so entschleunigten Tage vergehen im Flug. Der Alltag liegt in weiter Ferne. Man ist zufrieden, losgelöst vom herkömmlichen Trott und seinen Sorgen, kann einfach sein, ohne das ganze Klimbim drum rum, von dem wir oftmals glauben ohne es nicht mehr funktionsfähig zu sein. Living-History bietet eine außergewöhnliche Form der Auszeit. Manche ersteigen Berge, andere umsegeln die Welt und manche schlafen eben in historischer Gewandung auf Fellen. Egal welche Leidenschaft man pflegt, sie stellt ein en wichtigen Bestandteil eines glücklichen Lebens dar. Jeans und T-Shirt fühlen sich danach ungewohnt, aber bequem an, der Abschied nicht. Dennoch: Nicht nur die gute Erinnerung.
Von Natascha Domeisen