Manche Restaurants kann man sachlich und nüchtern bewerten. Beim „Hutzelwald“ fällt Sachlichkeit schwer, von Nüchternheit wird dringend abgeraten
[dropcap]M[/dropcap]an muss erst mit dem Fahrrad in eine asiatische Reisegruppe geraten sein, um von der Existenz des „Restaurant zum Hutzelwald“ zu erfahren. Dass hinter den schlammbraunen Bleiglasfenstern tatsächlich noch Restaurantbetrieb stattfindet, liegt offenbar alleine an den Busladungen Touristen, die beim Betreten des mit beleuchteten Plastiktrauben verschlimmbesserten Eingangs die Gaisbergstraße blockieren. Laufkundschaft verirrt sich dagegen kaum in diesen südlichen Winkel der Weststadt.
Daher sollte man besser in einer größeren Gruppe erscheinen, um im Epizentrum der „German Gemütlichkeit“ die Eigentümer zahlenmäßig zu übertrumpfen. Diese versammeln sich um einen Fernseher in der Ecke des Gastraums, für den selbst die Bezeichnung „altmodisch“ ein Euphemismus wäre. Gelegentlich riskieren sie verstohlene Blicke, während man es sich vor einem stimmungsvoll von Neonröhren illuminierten Historienschinken eines berechtigterweise vergessenen Heimatmalers bequem macht.
Zur Ehrenrettung: Der Service ist grandios – was auch daran liegen könnte, dass die Zahl der parallel zu bewirtenden Gäste hart gegen Null geht. Einzig ein schweigsamer alter Herr taucht im Verlauf des Abends auf und bekommt ohne Bestellung ein Pils und einen Kamillentee vorgesetzt – in dieser Kombination vermutlich eine Spezialität des Hauses. Speziell ist auch der kostenlose Aperitif, der wahlweise als Birnen- oder Pflaumenlikör gereicht wird, versehen mit dem Zusatz: „Gut, dass Sie sich für die Birne entschieden haben. Die Pflaume kann man nämlich nicht trinken.“ Den für den Besuch empfohlenen Pegel erreicht man anschließend mit erstaunlich günstigem Bier und lieblichem (!) Tafelwein. Letzterer schmeckt zuweilen, als hätte einem der Barmann den Pflaumenschnaps doch noch unterjubeln wollen. Die Karte bedient die gesamte Klaviatur der fleischversessenen Hausmannskost, als Vegetarier oder Veganer isst man vorher idealerweise zuhause. Immerhin kommt das verdächtig nach Tiefkühlfach aussehende Jägerschnitzel mit Salat und der höchsten Daseinsform frittierter Kartoffelbeilagen: Kroketten. Dafür schlägt es auch mit stolzen 13 Euro zu Buche.
Nach dem dritten lieblichen Rosé traut man sich dann auch, Gespräche in Zimmerlautstärke zu führen und vergisst, dass sogar die Plastikblumen auf den Tischen traurig aussehen. Trotz (oder wegen) der Wandkacheln mit folkloristischen Abbildungen stereotyper „Bayern“ und „Schwaben“ entwickelt sich sogar fast ein Gefühl bizarrer Gemütlichkeit. Dieses wird allerdings rechtzeitig durch eine resolute Ankündigung aus der Fernseh-Ecke vertrieben: „In einer halben Stunde macht die Chefin Abrechnung, dann sperren wir zu!“ Da ist es gerade kurz nach neun.
Der „Hutzelwald“ ist mehr als nur ein schlechtes Restaurant, er ist ein Bollwerk wider den Zeitgeist. Allerdings beschwört er mit seiner seit dem Wirtschaftswunder nicht veränderten Karte und Einrichtung die Atmosphäre einer Vergangenheit, die es in dieser Form hoffentlich nie gegeben hat.
Von Tillmann Heise