Die Historikerin Katja Patzel-Mattern erklärt, wie vielschichtig und fluide die Konstruktion von Identität im 19. und 20. Jahrhundert war. Im Gespräch zeigt sie, wie Religion, Geschlecht und Nationalität das Selbstbild über Klassengrenzen hinweg mitbestimmen
Katja Patzel-Mattern ist Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Historischen Seminar und Gleichstellungsbeauftrage der Universität Heidelberg. Sie forscht zu den Schwerpunkten Wirtschaftskulturgeschichte, Krisen und Katastrophen sowie Produktion und Arbeit. In ihrer neuesten Monografie „Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich“ untersucht Patzel-Mattern, wie Unternehmen der Weimarer Republik mithilfe der industriellen Psychotechnik die Suche nach geeigneten Angestellten optimiert haben.
In ihrem Vortrag „Der Bourgeois und der Proletarier. Klasse und Identität im 19. und 20. Jahrhundert“ am Deutsch-Amerikanischen-Institut Heidelberg vom 13. November hat Patzel-Mattern die zahlreichen Facetten der Identität von Arbeitern und Bürgerlichen beleuchtet. Am 4. Dezember wird sie mit dem Psychologen Franz Resch und Religionswissenschaftler Jörg Rüpke im DAI ein Abschlusspodium halten zur Vortragsreihe „Identität – vom alten Ego zur multiplen Moderne“.
Wie haben Sie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte für sich entdeckt?
Katja Patzel-Mattern: Gleich in meinem ersten Semester an der Universität Münster habe ich einen sozialgeschichtlichen Kurs zu „Sonntagsruhe in der industrialisierten Welt“ besucht. Zum Ende des Semesters fragte mich der Dozent, ob ich nicht als Hilfskraft für ihn arbeiten wolle. Was mich an Wirtschafts- und Sozialgeschichte fasziniert, ist ihr Bindestrichcharakter – man kann sich sowohl mit Wirtschaft als auch Gesellschaft beschäftigen – und das ist ja nahezu alles, was es gibt.
In der Geschichtsforschung gelten Wirtschafts- und Sozialwissenschaften oft als zu theorielastig. Besonders seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat eine Hinwendung zu „weichen“ Themen wie Sprache und Kultur stattgefunden. Haben die Theorien in der Geschichtswissenschaft ausgedient?
Ich bin eine Vertreterin des theoriegeleiteten Arbeitens. Theorien helfen dem oder der Forschenden, sich vor der Auswertung von historischen Daten, Fakten und Ereignissen zu positionieren. So können Leserinnen und Leser die Argumentation leichter nachvollziehen. Ein Beispiel für eine fruchtbare Anwendung von Theorie in der Geschichte ist der Neoinstitutionalismus, der erklärt, wie sogenannte weiche Faktoren, wie Vertrauen, ökonomisches Handeln beeinflussen. Theorie darf aber niemals zum Selbstzweck verkommen – das Veto haben immer die Quellen.
Ihr Vortrag heißt „Der Bourgeois und der Proletarier“. Was ist denn mit der Proletarierin und der Bourgeoise?
Die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ist eine weitere Differenzkategorie zur Klasse, die durch ihre gesellschaftliche Wirkung die Gründung der Frauenbewegungen beförderte. So engagierte sich ein Teil der Frauenbewegung für die Interessen von Arbeiterinnen, während ein anderer Teil vor allem dafür kämpfte, Handlungsmöglichkeiten bürgerlicher Frauen zu erweitern. Diese Differenzkategorien helfen uns zu erkennen, dass es innerhalb einer Gesellschaft überlappende Gruppenzugehörigkeiten gibt.
Wie hat sich der durchschnittliche Proletarier im 19. Jahrhundert gesehen?
Hier zeigt sich ein plurales Bild, das über die Klassenzugehörigkeit hinausgeht. Die Arbeiterbewegungen waren anfangs internationalistisch aufgestellt, entwickeln dann aber bald ein nationales Profil, weil sie sich mit nationalen Regelungen und Bedürfnissen auseinandersetzen mussten. Hinzu kommt die konfessionelle Prägung und die Unterscheidung sozialer Lagen in ungelernte Arbeiter, Facharbeiter und Stammarbeiter. Ein gutes Beispiel ist hier das Unternehmen Krupp, das in hohem Maße soziale Investitionen tätigte und seinen Stammarbeitern zahlreiche Privilegien verlieh. Diese Stammarbeiter zeigen eine hohe Identifikation mit ihrem Unternehmen. Ihr gesellschaftliches Engagement war weniger kämpferisch. So waren sie beispielsweise eher in den sogenannten Gelben Gewerkschaften aktiv, die von den Arbeitgebern sanktioniert wurden.
Und der Bourgeois?
Man kann grob zwischen dem Kleinbürgertum, dem Bildungsbürgertum und dem Großbürgertum unterscheiden: Gemein ist dem Bildungs- und Großbürgertum, dass es sich durch den Leistungsgedanken vom Adel abgrenzt. Bei dem Bildungsbürgertum kommt die Bildung als Element der Abgrenzung hinzu – sowohl nach unten als auch nach oben. Dies wirkt bis heute nach und zeigt sich an der Tatsache, dass es an Universitäten verhältnismäßig wenige Arbeiterkinder gibt. Das Großbürgertum sucht in mancherlei Hinsicht den Anschluss an den Adel – etwa durch Nobilitierung oder was Repräsentation und bauliche Formen angeht. Beim Kleinbürgertum sehen wir dann eine Vertrautheit mit den Problemen der Arbeiterschaft, insbesondere mit den Facharbeitern. Andererseits strebt der Kleinbürger aber auch danach, seine geistige Büroarbeit von der Werkstatttätigkeit des Facharbeiters abzugrenzen.
Die großen kommunistischen Revolutionen haben in Agrarstaaten und nicht in Industriestaaten stattgefunden. Wie sind Revolutionäre und Wissenschaftler mit diesem Widerspruch zur marxistischen Theorie umgegangen?
Die Revolutionäre haben die Bauern zu einer Art „agrarischer Proletarier“ erhoben, indem sie die ländlichen Besitzverhältnisse mit den industriellen Besitzverhältnissen gleichsetzten. Wie der Kapitalist das Proletariat ausbeute, beute der Grundbesitzer die Bauernschaft aus. Der nächste Schritt – etwa in der Sowjetunion – war es dann mit aller Gewalt eine Schwerindustrie aufzubauen, um dadurch eine Arbeiterschaft zu schaffen.
Die Weiterentwicklung marxistischer Theorien angesichts dieser Widersprüche wird innerhalb kommunistischer Staaten unterdrückt und verlagert sich ins Ausland. Dies spielt sich vor allem im universitären Bereich ab, da Klassenkämpfe nach dem 2. Weltkriegs an Intensität verlieren. Hier reagiert man mit einer Erweiterung der Differenzkategorien. Neben die Klassen Proletarier und Bourgeois gesellen sich etwa Frau und Patriarchat, Kolonisierte und Kolonisatoren, Afroamerikaner und weiße US-Amerikaner.
Finden in den kapitalistischen Musterländern, wie Großbritannien oder den USA, keine kommunistischen Revolutionen statt?
In diesen Ländern kommt es relativ schnell zu einer Beteiligung größerer Bevölkerungsteile an der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Die Lebensverhältnisse verbessern sich recht schnell und es kommt zu einer Angleichung der unteren und mittleren Einkommensschichten. Zudem eröffnet die Demokratisierung in diesen Ländern Gestaltungsmöglichkeiten, die Optionen jenseits des Umsturzes eröffnen. Hinzu kommt ein dritter Faktor, den die marxistische Theorie nicht vorhergesehen hatte: Der Staat interveniert in die Wirtschaft und schafft über Transferleistungen einen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeiterschaft und dem Bürgertum. Diese Interventionen minimieren gesellschaftliche Unterschiede und stabilisieren das kapitalistische System. Und auch Unternehmer handeln nicht immer nur gewinnmaximierend, sondern sind auch an der Amortisierung ihrer Investitionen und der Verhinderung von Revolutionen interessiert. Ein frühes Beispiel ist die nach dem 1. Weltkrieg gegründete „Zentralarbeitsgemeinschaft“ aus Gewerkschaften und Arbeitgebern. Erstmals erkannten Arbeitgeber die Gewerkschaften als legitime Verhandlungspartner an – auch aus Angst vor Sozialisierung angesichts der Oktoberrevolution in Russland und der Novemberrevolution in Deutschland.
Die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands sieht in ihrem Parteiprogramm einen Hauptwiderspruch unserer Zeit „zwischen der Bourgeoisie gegenüber der internationalen Arbeiterklasse unter Führung des international verbundenen Industrieproletariats“. Ist das noch eine realistische Beschreibung der gesellschaftlichen Realität?
Man sieht ja an der geringen Zustimmung des Wählers, dass solche Gesellschaftsmodelle in Deutschland nicht sehr attraktiv sind. Ich glaube jedoch, dass neomarxistische Positionen dann glaubwürdiger sein können, wenn sie einen stärkeren Fokus auf Differenzkategorien legen. Diese Differenzkategorien können sich hinwenden zu Unterdrückten in den postkolonialen Ländern und die Aufmerksamkeit auf neue Formen sozialer Ungleichheit lenken.
Das Gespräch führte Niklas Gerberding