Da soll doch mal einer sagen, Oper wäre nicht politisch: In Beethovens einziger – und einzigartiger – Mischung von Singspiel, großer Oper und Oratorium „Fidelio“ geht es um die ganz großen Themen: Freiheit, Widerstand gegen Tyrannei und – natürlich – die Liebe. Das Nationaltheater Mannheim hat sich diesen zeitlosen Themen angenommen – und schafft mit einer bewusst historienlosen Inszenierung den Sprung in die Moderne.
[dropcap]D[/dropcap]as Setting dieses Opernschwergewichts scheint zunächst überschaubar: Florestan (Will Hartmann), hauptberuflich Revoluzzer und Ehemann, sitzt im Kerker. Der Schurke Pizarro (Thomas Jesatko) will ihn tot sehen, denn Florestan weiß zu viel. Als hochgesteller Beamter (wohl ohne Pensionsanspruch) will er sich die Finger freilich nicht selber schmutzig machen. Die Ausführung überlässt er deswegen dem Kerkermeister Rocco (Sebastian Pilgrim), der sich von seiner Tochter Marcelline (Ji Yoon) und ihrem angetrauten Pförtner Jaquino (Raphael Wittmer) unterstützen lässt.
Hier steigt die Oper ein – und bringt alles durcheinander. Florestans Ehefrau Leonore (Anette Seiltgen) ist nämlich so gar nicht einverstanden mit dem allmählichen Ableben ihres Mannes. Flugs lässt sie sich unter der Tarnidentität des „Fidelio“ als neuer Kerkermeistermeisternovize einstellen. Unpassenderweise verliebt sich nun Marcelline in den androgynen Fidelio und ein kurzes Turtelintermezzo beginnt. Das endet aber schnell, als Don Pizarro auftaucht. Dem Gefängnisgouverneur wird die Affäre Florestan zu heiß und so will er das Leben des ungemütlichen Jünglings schnellstmöglich beenden: Er zwingt Rocco dazu, im Keller des Gefängnisses eine Grube auszuheben. Danach, so kündigt er an, werde er dazu kommen und Florestan höchstselbst erdolchen.
Fidelio aber hilft Rocco und kommt so in die Zelle Florestans. Rocco ist im Handumdrehen von der Schufterei Pizarros überzeugt und bald ringen sie in trauter Zweisamkeit gegen ihren Vorgesetzten. Da tönt die Trompete vom Turm des Gefängnisses: Don Fernando (Thomas Bernau), der Minister, kommt in höchster Not. Als Prototyp eines gerechten Herrschers entdeckt er Pizarros Übeltaten. Florestan ist gerettet.
Bei aller Liebe für Beethoven: Sonderlich logisch oder stringent erzählt ist diese Oper nicht. Es beginnt als heiteres Singspiel, wird mit dem Erscheinen Don Pizarros zur großen, dramatischen Oper und wandelt sich mit dem Erscheinen des Ministers schließlich zu einer Art Oratorium auf die Tugenden der Freiheit, Hoffnung und Gerechtigkeit. Um sich diesem strukturellen Problem anzunähern, hat das Regieteam rund um Roger Vontobel eine Lösung gefunden, die schlichtweg genial zu nennen ist: Florestan träumt, ja „erträumt“ die Oper. Der Häftling, exzellent verkörpert vom Schauspieler Michael Ransburg, und seine stilisiert dargestellte Gefängniszelle sind denn auch der Zentralpunkt dieser Inszenierung, die anderen Figuren die Marionetten seines träumenden Selbst. Die Handlungsbrüche des Librettos wirken so fast schon wieder logisch: Sie sind die Verzerrungen, Brüche, Unschärfen eines rasanten Fiebertraums.
Die Kostümierung (Dagmar Fabisch) ist ebenso überzeichnet wie passend: Don Pizarro ist ein nicht zu verkennender „Joker“, Rocco wirkt wie eine pervertierte Kreuzung aus dem „Glöckner von Notre-Dame“ und „Gollum“ und Marcelline hinkt als klumpfüßige Schaufensterpuppe über die Bühne.
Auch die Sänger geben sich an diesem Abend alle Mühe, den hohen Erwartungen des Publikums gerecht zu werden. Besonders gelungen wirkt die Besetzung ausgerechnet bei zwei Nebenrollen: Während sich Sebastian Pilgrim als Rocco herrlich spielend und mit volltönendem Bass (großartig: „Hat man nicht auch Gold beineben“) vom Unsympath zum heimlichen Publikumsliebling entwickelt, verzaubert Ji Yoon in der Rolle seiner Tochter Marcellina mit ihrem klaren, strahlenden Sopranklang. Sicher ist ihre Partie weit weniger dramatisch ausgelegt als die der Hauptprotagonistin Leonore – und doch hätte man sich auch bei Anette Seiltgen ein wenig mehr Yoon’sche Klarheit gewünscht. Stimmlich schön, aber zu leise erschien vor der sonst gelungenen Besetzung leider Will Hartmann, der die Florestan-Arien des zweiten Aktes übernimmt.
Auch wenn das große Hornsolo ganz zu Anfang der Ouvertüre kolossal schief sitzt: Das Orchester unter Leitung von Generalmusikdirektor Alexander Soddy weiß an diesem Abend zu überzeugen. Mit feinem Gespür für die Zwischentöne und differenziertem Ausdruck führt der gebürtige Brite sein Orchester durch die Untiefen der Partitur. Auch die Zusammenarbeit mit den Sängern funktioniert gut, die wenigen Wackler sind schnell wieder unter Kontrolle gebracht.
Die neue Fidelio-Produktion der Nationaloper Mannheim ist ein Genuss. Besonders die Inszenierung ist intelligent und packend, ohne sich ins Plakative zu verirren. Sie findet eine sehr eigene Sprache und bleibt doch ganz bei Beethovens Ideal von Freiheit durch Hoffnung, Mitgefühl und Liebe. Hier werden nicht zwanghaft historische Parallelen hochgejazzt, um die Relevanz des Stoffes auch noch dem letzten Zuschauer verständlich zu machen. Beethoven, so viel wird deutlich, ist nicht gegenwärtig – Beethoven ist zeitlos. Danke dafür!
Von Jakob Bauer
Die Spielzeiten und Hintergründe findet ihr beim Nationaltheater Mannheim.