Die oftmals verdrängte Minderheit intergeschlechtlicher Menschen rückt durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in den Fokus. Eine dritte Option im Geburtenregister, neben männlich und weiblich, soll das binäre System ausweiten.
„Meine Damen und Herren!“ – das Leben in einer binären Welt beginnt mit der Sprache und setzt sich fort bis in unsere Gesetzgebung und Verwaltung. Die strikte Einteilung der Menschheit in Mann oder Frau bleibt häufig nicht hinterfragt, doch dies ist ein System mit oftmals gravierenden Auswirkungen für intergeschlechtliche Personen. Aufgrund der erfolgreichen Verfassungsklage im Oktober diesen Jahres organisierte die Juso-Hochschulgruppe deshalb zwei Vorträge an der Universität Heidelberg. Fiona Neuhold, Mitglied im „Intersexuelle Menschen e.V.“ und Konstanze Plett, die die Beschwerde mitverfasste, sprachen dabei zum Entscheid des Bundesverfassungsgerichtes. Nach dem Beschluss soll bis Ende 2018 im Geburtenregister, neben den herkömmlichen binären Optionen eine dritte, positive Bezeichnung wie beispielsweise „inter“ oder „divers“ geschaffen werden. Das allgemeine Personenrecht von Menschen, bei deren Geburt sowohl weibliche als auch männliche Merkmale entwickelt sind, wie beispielsweise Hoden und Schamlippen, werde durch die zwangsweise Registrierung verletzt, erklärte Plett dabei. Bei „uneindeutigen Fällen“ entscheiden oft Hebammen oder Ärzte über die endgültige Zuordnung. Dies mache eine freie Entfaltung und Entwicklung der Persönlichkeit unmöglich. Angaben des Bundesverfassungsgerichts zufolge lassen sich in Deutschland rund 160 000 Personen unter dem Begriff der Intergeschlechtlichkeit zusammenfassen. Eine Hochrechnung auf die globale Ebene geht von 15 Millionen aus. Plett nannte diese Statistik und unterstreicht gleichzeitig: „Mich interessieren keine Zahlen. Wenn das Recht eines Einzelnen in einem Rechtsstaat verletzt wird, ist das abzustellen.“
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→ Intergeschlechtlichkeit:
Auch als Intersexualität bezeichnet, beschreibt der Begriff eine natürliche Ausprägung des biologischen Geschlechts. In diesem Spektrum bewegen sich Menschen, deren Körper aufgrund einer Kombination medizinischer Merkmale nicht eindeutig den Kategorien männlich oder weiblich zugeordnet werden können.
→ Transsexualität:
Eine (Selbst)bezeichnung für Personen, deren anatomisches Geschlecht nicht mit dem Identitätsgeschlecht übereinstimmt. Ein Teil von ihnen ergreift Maßnahmen wie geschlechtsangleichende Operationen oder Hormontherapien.
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Auf welche Weise das geschehen kann, verdeutlicht Fiona Neuholds Biografie. Schon im Kindergarten fühlte sie sich von den anderen Kindern separiert, bis mit dem Schulbeginn ihre Hormonbehandlung initiiert wurde. Aufgrund einer Resistenz schlug der „Therapieansatz“ jedoch nicht an. Zuletzt betrug ihre Testosterondosis das zwanzigfache eines erwachsenen Mannes. Dies löste eine verfrühte Pubertät im Alter von ungefähr sieben Jahren aus. „Man hat praktisch keine Jugend gehabt“, resümiert Neuhold jenes Kapitel. Erst im Alter von 55 Jahren stellte ein Arzt offiziell ihre Intergeschlechtlichkeit fest und ermöglichte eine Bezeichnung ihrer diversen Entwicklung. Seitdem engagiert sie sich in einem Verein intersexueller Menschen im Bereich der Peer to Peer Beratung und der psychosozialen Unterstützung. Ein wichtiges Anliegen sind ihr dabei sogenannte geschlechtsangleichende Operationen von Säuglingen oder Kindern, die nicht eindeutig den Kategorien männlich oder weiblich zugeordnet werden können. Diese seien, besonders in jenem Alter, nicht lebensnotwendig, sondern geschähen aus „Imagegründen der Eltern“, führt sie aus.
Operationen dieser Art sollten nicht an einem solch frühzeitigen Zeitpunkt durchgeführt werden, findet Judith A., die sich im ersten Jahr ihrer Hebammenausbildung befindet. Fühle sich eine Person allerdings der einen oder anderen Kategorie mehr zugeneigt könne sie diese Option im Erwachsenenalter vorstellen, um dem Menschen die Möglichkeit zu geben „Umgehensweisen zu und einen eigenen Werdegang zu finden.“ In ihrer bisherigen Erfahrung wurde Judith noch nicht mit derartig diversen Geschlechtsausprägungen berührt. Die neu geschaffene Möglichkeit zu Eintragung einer dritten Option im Geburtenregister bewertet sie aber positiv, vor allem da jene Menschen nun auch „etwas seien, anstatt eines Nichts oder etwas abnormalem.“ Zudem rücke das Urteil „ein Tabuthema unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt.“
Auch Professorin Plett sieht die bisherige Handhabung der Geschlechtsidentität skeptisch. „Man hat das Problem in den medizinischen Sektor abgeschoben“, kritisiert sie. Dabei ist es eine komplexe Angelegenheit, die Bereiche des Wahlrechtes, der Statistik, des Familienrechts sowie Zwangsuntersuchungen, beispielsweise an Flughäfen, umfasst. Eine Alternative, die in der neuen Gesetzgebung verwirklicht werden könne, wäre die Geschlechtsregistrierung komplett abzuschaffen, was sie aber als unwahrscheinlicher einschätzt. Ihrer Auffassung nach könnte diese Möglichkeit Befürchtungen wachrufen, dass die Kategorien männlich und weiblich zugunsten des dritten wegfallen werden. Das wäre aber keineswegs das Ziel. Die Ausweitung des binären Systems sei vor allem verfassungsrechtlich bedeutend, da der Begriff Geschlecht nicht mehr nur Frauen und Männer umfasse, sondern alle Menschen. Somit sollen auch sie unter dem Schutz des Grundgesetzes stehen.
Entwürfe anderer Länder können dabei als Orientierung dienen. So ist es beispielsweise in Argentinien möglich, den Eintrag des eigenen Geschlechts im Personenregister zu ändern, ohne dafür die Bewilligung eines Richters oder Arztes einholen zu müssen. Auch Malta ermöglicht seinen Bürgern Selbstbestimmung über ihre rechtliche Geschlechtsidentität. Im historischen Staat Preußen findet sich am Ende des 18. Jahrhunderts ein für seine Zeit unerwarteter Paragraph. Demnach stand intersexuellen Menschen, deren Eltern ihr Geschlecht „inkorrekt“ festlegten, mit dem 18. Lebensjahr das Recht zu, dieses zu ändern. 1938 wurde diese Regelung zurückgenommen. Schließlich wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Bescheinigung eines Arztes oder einer Hebamme zur Pflicht. Im Jahr 2010 wurden Standesämter explizit angewiesen, nur „männlich“ oder „weiblich“ als Eintragung zuzulassen. Drei Jahre später wurde bei Unklarheiten als dritte Option das Leerlassen des Geschlechtsregisters zugelassen. Gegenstimmen erhoben sich unter anderem vom Deutschen Ethikrat, intergeschlechtliche Menschen seien kein Nullum.
Jedoch ohne den Mut derjenigen, die Missstände angeklagt haben, ohne „den Druck von unten“, wäre das Umdenken des Status Quo nicht passiert, betont Plett zum Schluss.
Von Nele Bianga