Viele junge Leute in Russland demonstrieren, wollen aber bei den Präsidentschaftswahlen im März nicht abstimmen. Wie politisch ist eine Jugend, die nur eine Partei erlebt hat?
Es ist der 31. Dezember, kurz vor Mitternacht: Michail, Oksana, Konstantin und Polina sitzen vor dem Fernseher in einer Sankt Petersburger Plattenbau-Wohnung. Über den Bildschirm flackert das Bild von Wladimir Putin. In Russland ist es Tradition, zu Silvester die Neujahrsansprache des Präsidenten zu gucken, egal ob man ihn unterstützt oder nicht. Alle reden wild durcheinander, lachen, machen Selfies vor dem Fernseher, und salutieren dem Präsidenten – alles davon natürlich ironisch, denn gewählt haben sie ihn nicht. Oksana, Konstantin und die anderen sind in ihren Zwanzigern, junge Studenten, und an eine Zeit vor Putin, der seit dem Jahr 2000 Präsident der russischen Föderation ist, kann sich keiner von ihnen erinnern.
Bei den russischen Präsidentschaftswahlen am 18. März wird keiner von ihnen wählen gehen. Dass Putin, der im Dezember offiziell seine Kandidatur verkündete, die Wahl gewinnen wird, gilt als sicher. Die letzte Wahl 2012 gewann er mit einer klaren Mehrheit, die Wahlbeteiligung lag damals bei nur 65 Prozent. Bei der letzten Dumawahl, der Wahl des russischen Parlaments, im Jahr 2016, lag die Beteiligung sogar nur bei 48 Prozent, auch in dieser Wahl gewann die Partei Putins „Einiges Russland“. Die niedrige Wahlbeteiligung brachte jedoch Zweifel an der Legitimität der Regierung hervor. Der 18. März ist der Tag der Annexion der Krim, deren Bewohner trotz des völkerrechtlich umstrittenen Status der Halbinsel in dieser Wahl zum ersten Mal in Russland wählen dürfen.
Nachdem die Kreml-Uhr Mitternacht geschlagen hat, wendet sich das Gespräch erst so richtig der Politik zu, und obwohl keiner von ihnen wählen wird, werden die Wahlen heiß diskutiert. Was gibt es für Alternativen zu Putin? Auf die Erwähnung des Namens Xenia Sobtschak, einer ehemaligen oppositionellen Journalistin und nun Politikerin, über die auch in den deutschen Medien ausführlich berichtet wurde, lacht Polina nur bitter. Eine echte Alternative scheint Sobtschak also nicht zu sein. Und wen gibt es sonst? Kommunisten, Nationalisten, und den Liberal-Demokraten Wladimir Zhirinowski, ein antisemitischer Nationalist, der unter anderem Atomwaffen auf die USA abwerfen wollte, und dessen Partei offensichtlich weder liberal noch demokratisch ist.
Der vielleicht prominenteste Oppositionelle, der Blogger Alexej Nawalny, steht dagegen gar nicht erst zur Wahl. Er darf aufgrund einer alten Vorstrafe wegen Korruption nicht antreten – eine Vorstrafe, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als ungültig, da politisch motiviert gewertet wird. Viel Auswahl gibt es also nicht – nicht für sie, junge, gebildete Menschen aus der westlichsten Großstadt Russlands. Natürlich gibt es auch Studenten, die Putin wählen, doch auf die Frage, ob er jemanden kennt, verneint Michail. Auch Polina und Oksana kennen niemanden ihres Alters, der die Regierung unterstützt. Es gibt sie, doch sie sind für ihre Realität weit entfernt.
Aber sind die jungen Russen politikverdrossen? Ist es Politikverdrossenheit, wenn man zwar nicht wählt, aber sich gleichzeitig sehr für Politik interessiert, mit Freunden diskutiert, und zum Demonstrieren auf die Straße geht? Ist es Resignation? Oder steckt doch politisches Kalkül hinter der Wahlverweigerung? So rief zum Beispiel Nawalny dazu auf, die Wahlen zu boykottieren, denn ein Sieg bei unter 50 Prozent Wahlbeteiligung ist zwar ein Sieg, aber ein glanzloser, und keiner, der den Kreml zufriedenstellen würde.
Im März 2017 demonstrierten in den Städten Russlands von der Ostsee bis zum Pazifik Hundertausende gegen Korruption in der russischen Politik. Auslöser der Proteste war ein Youtube-Film von Nawalny namens „Für euch ist er nicht Dimon“ über die mutmaßliche Korruption des Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew. In diesem Video wurden erstmals Korruptionsvorwürfe gegen den Ministerpräsidenten konkretisiert. So zeigt der Film die Beziehungen und Geldflüsse zwischen Mitgliedern der russischen Regierung und Oligarchen sowie Prominenten auf, die unter anderem aufgrund der Panama Papers entdeckt wurden, und kritisiert auch den privaten Reichtum Medwedews, inklusive seiner Villen, Jachten und Weingüter.
Von westlichen Medien und auch vielen Teilnehmern wurden die Proteste interpretiert, als ob sie sich explizit gegen Präsident Putin richteten. Tatsächlich ging es aber um die Korruption Medwedews. Trotzdem ärgerten und verunsicherten die Demonstrationen den Kreml. Gerade das junge Alter der Demonstranten wurde kritisiert. Unter ihnen fanden sich nicht nur viele Studenten, sondern auch Schüler, die jüngsten gerade einmal 14 Jahre alt. Der Pressesekretär des Kreml, Dmitri Peskow, behauptete, dass die „Minderjährigen und Kinder“ bewusst aufgefordert wurden, an den Protesten teilzunehmen und deutete an, dass sie gar von Nawalnys Bewegung dafür bezahlt wurden. Dass die große Mehrheit der Protestierenden volljährig war, und auch viele Rentner und Menschen mittleren Alters auf die Straße gingen, wurde dabei natürlich bewusst verschwiegen.
Auch Michail, Polina, Konstantin und Oksana demonstrieren regelmäßig und unterstützen oppositionelle Bewegungen. Abgesehen davon, dass sie nicht wählen, sind sie durch und durch politische Menschen. Von dem politischen System, den Parteien und den Politikern, sind sie zutiefst frustriert: Es gibt keine, die ähnliche Werte wie sie haben, und dieselben Ziele verfolgen. Diese Frustration zeigt sich auch unter Putin-Wählern: viele von ihnen haben lieber eine ihnen bekannte korrupte Elite, die bereits reich ist, als eine neue, die sich erst noch bereichern wird. „Lieber den Dieb, den man kennt, als den, den man nicht kennt, – so denken viele“, meint Konstantin und erzählt, dass er als Wahlbeobachter bei der Dumawahl auch schon Wahlbetrug mit den eigenen Augen gesehen hat. Zehn Sekunden Stromausfall, Licht aus, Licht an, und schon liegen zwei neue Säcke Stimmen für Putins Partei „Einiges Russland“ auf dem Tisch, Stimmen, die auch die Wahlbeteiligung erhöhen. Etwas dagegen unternehmen konnte er nicht – er war der einzige unabhängige Beobachter im vor Polizisten strotzenden Wahllokal, die das den Betrug durchführende Wahlkomitee unterstützten. So ist die Wahlbeteiligung der eigentliche Feind Putins. Denn was nützt ein Sieg mit einer hohen absoluten Mehrheit, wenn die Wahlbeteiligung, wie laut einer Prognose der Deutschen Welle, bei unter 50 Prozent liegen wird? Für politische Legitimation braucht Putin nicht nur einen hohen Sieg, sondern vor allem eine hohe Wahlbeteiligung. Ein Präsident, der von weniger als der Hälfte des Volkes gewählt wurde, wird von der Opposition leichter kritisiert und angezweifelt als ein Präsident, der einen Sieg bei hoher Wahlbeteiligung einfuhr. Mit dieser Argumentation begründet auch Nawalny seinen Aufruf zum Wahlboykott. So wird letztendlich nicht das Ergebnis der Wahl zum Politikum, sondern die Höhe der Beteiligung. Und die jungen Nichtwähler werden ihren Teil tun, um diese niedrig zu halten und dem Sieg Putins den Glanz zu nehmen. Gleichzeitig werden sie weiterhin ihr Bestes geben, um aus Russland einen Staat zu machen, dem sie wieder vertrauen können. Vielleicht werden sie irgendwann auch wählen gehen.
Von Hannah Steckelberg