Bereits in der Bibel steht „Du sollst nicht lügen“. Doch ein Selbstversuch zeigt, dass Lügen die Gesellschaft zusammenhalten.
[dropcap]G[/dropcap]ehen wir heute Abend noch was trinken?“, fragen mich meine Freundinnen an einem Dienstagabend. „Heute Abend habe ich leider keine Zeit“, ist meine Antwort und füge im Geiste hinzu: „Ich habe eine ganz wichtige Verabredung mit Netflix und meinem Bett.“ Ein bisschen schäme ich mich dafür, ihnen nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Aber eine wirkliche Lüge ist es doch nicht. Oder?
Eine Woche betrachte ich den Wahrheitsgehalt meiner Aussagen und es soll nicht eine einzige Flunkerei über meine Lippen kommen. Da ich in letzter Zeit keine andere Persönlichkeit angenommen hatte und mir weder ein hohes politisches Amt zugetragen wurde, noch mich ein finanzieller Geldsegen überrascht hatte, sah ich darin kein größeres Problem. Schade eigentlich. Denn die Offenlegung umfassender Lügen hat bislang den betroffenen Personen zu großer Bekanntheit verholfen, wie es aktuell am amerikanischen Präsidenten zu betrachten ist. Es ist ein Thema, das unsere Gesellschaft bewegt. Egal ob Doping, Fälschung, Plagiatsvorwürfe oder Veruntreuung, wir möchten nicht hintergangen werden. Auch der Vorwurf der Lügenpresse wiegt schwer und Fake News kursieren ungewollt im Internet. Mein Wirkungskreis ist bei weitem kleiner und so auch die Reichweite meiner Betrachtungen.
Was sich als erstes abzeichnete, war mein stark reduzierter Umgang mit digitalen Kommunikationsplattformen. Meine WhatsApp-Nachrichten beantwortete ich zögerlich bis gar nicht, da ich oftmals nicht wollte, dass andere wissen, was ich im Moment mache oder vorhabe. Posts auf Instagram überlegte ich mir zwei Mal.
Ähnliches spielte sich in meinem realen sozialen Umfeld ab. Häufig zog ich mich zurück, weil ich nicht aussprechen wollte, was ich wirklich denke oder möchte. Seltener machte ich meinem Umfeld Komplimente und bemerkte, dass ich diese in der Vergangenheit meist nicht ernst meinte. Bisher sah ich mich auch nicht als konfliktscheu und reizte deshalb, natürlich zu Versuchszwecken, die Verpflichtung zur Wahrheit besonders aus. Dafür erntete ich Kränkungen und Distanz in meinem Freundeskreis. Ich bemerkte, wie ich in meinem Arbeitsumfeld oftmals vortäuschte, Aufgaben bereits erledigt zu haben, die noch lange nicht auf meiner To-Do Liste standen. Doch an dieser Stelle blieb es bei kleinen Schwindeleien, die schnell in Wahrheit umgesetzt werden konnten. Denn wo meine Lügen schwerwiegende Folgen haben könnten, hatte ich auch kein Verlangen danach.
Ich musste meine Woche nicht erst beenden, um bestätigt zu bekommen, was die Forschung schon längst herausgefunden hat. Wir flunkern und tricksen gerne in Momenten, in denen wir unsere Lügen als sicher empfinden. Aus Gründen der Selbstdarstellung und zum Schutze anderer. Wobei wir auch hierbei vornehmlich uns selbst schützen, vor sozialer Isolation, Kritik und Konflikten. Wissenschaftlich bestätigt ist, dass Menschen, die dieses Prinzip verstanden haben und Lügen gekonnt einsetzen, im Leben leichter vorankommen, sie sogar in unserer Gesellschaft notwendig sind, um diese zusammenzuhalten. Sehr widersprüchlich ist dabei, dass wir im Kindesalter zunächst beigebracht bekommen, stets die Wahrheit zu sagen, um keine lange Nase zu bekommen, aber sie uns in unserer Entwicklung wieder aneignen.
Mit dieser recht befriedigenden Erkenntnis beendete ich den Versuch der vergangenen sieben Tage ohne zu bemerken, welche großen und weitaus schwerwiegenderen Lügen ich bislang nicht wahrgenommen hatte. Dabei begehe ich sie jeden Tag: Die Lügen, die ich an mich selbst richte. Täglich rede ich mir ein, dass mein Studium gut läuft und meine Karriere steil nach oben gehen wird. Dass meine Freundschaften ausgeglichen und glücklich sind, sowie meine Beziehung. Dass ich eine gute Tochter und Schwester bin und meine Fehler menschlich und zu verzeihen sind. Das ist traurig, da ich doch wenigstens zu mir selbst ehrlich und einsichtig sein sollte, auch um die Missstände in meinem Leben zu verändern.
Doch dass ich meine eigene Realität schaffe, ist ein Selbstschutz, der mich davor bewahrt, die Hoffnung auf Veränderung aufzugeben und weiterzumachen. Dabei ist die Einsicht, dass diese Selbstlüge existiert, vielleicht die einzig Wahrheit, die jeder akzeptiert, in einer Gesellschaft voller falscher Tatsachen.
Von Maren Kaps