Noch nie gab es so viele Immatrikulierte wie heute. Dennoch bricht jeder Dritte sein Studium wieder ab. Warum die Universität nicht unbedingt die erste Wahl sein muss.
[dropcap]A[/dropcap]ls die Schule abgeschlossen war, kam für mich gar nichts anderes in Frage: Abitur und dann studieren – das klang für mich logisch“, erzählt der 26-jährige Simon, „mit Ausbildungsmöglichkeiten habe ich mich gar nicht beschäftigt.“ Simon steht in Hörsaal 06 der Neuen Universität auf dem Podium und blickt auf die Zuhörerreihen. Vor nicht allzu langer Zeit saß er selbst noch dort, auf den knarzenden, klapprigen Holzbänken, und lauschte seinen Professoren für Germanistik und Philosophie. Das war, bevor er sein Studium abbrach, bevor er eine Ausbildung zum Bankkaufmann antrat.
Heute ist Simon an seine Hochschule zurückgekehrt, um Studienzweiflern zu erzählen, wie es dazu kam. Die Sitzreihen sind bis zur letzten gefüllt.
Studieren ist „in“. Das sagen zumindest 68 Prozent der deutschen Jugendlichen. Und tatsächlich: In Deutschland gibt es mit rund 2 850 000 Immatrikulierten so viele Studierende wie noch nie. Das berichtet das Statistikportal statista. Allein im letzten Jahr schrieben sich eine halbe Million neue Gesichter an deutschen Universitäten ein.
Während immer mehr junge Menschen an die Hochschulen strömen, nimmt die Anzahl der Auszubildenden beständig ab, innerhalb der letzten zehn Jahre um 20 Prozent. Viele Stellen bleiben heute unbesetzt. Die Zeiten, in denen mehr Ausbildungsverträge als Neuimmatrikulationen unterzeichnet wurden, sind vorbei. Läuft das Studium der Ausbildung den Rang ab?
Während Simon vor seinen Zuhörern auf und ab geht und von seinem Werdegang erzählt, fällt auf, wie wenig er in diesen vollen Hörsaal passt mit seinem grauen Anzug und seiner gefassten Gestik. „Die Semester verstrichen und ich habe immer deutlicher gemerkt, dass mir das Studium keinen Spaß machte. Ich wechselte das Fach, später begann ich, auf Lehramt zu studieren.“ Aber es half nicht. Simon musste sich eingestehen, dass das Problem tiefer lag. „Irgendwann wurde mir klar, dass der Gesamtkontext nicht stimmte. Ich und Studieren, das harmonierte einfach nicht.“
Zwei von drei Angehörigen eines Geburtsjahrgangs wählen mittlerweile den Weg an die Universität. Gleichzeitig bricht aber jeder dritte sein Studium wieder ab, wie eine großangelegte Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) zeigt. Und damit sind nicht Fachwechsler gemeint, sondern die Gruppe von Studierenden, die im Schnitt nach vier Semestern entscheidet, der akademischen Welt gänzlich den Rücken zu kehren. Ganze 30 Prozent, die nach dem Einschreiben bemerken, dass es doch nicht so richtig passen will mit dem Studieren. Wie kann das sein?
[dropcap]N[/dropcap]icht jeder ist gleich gut für ein Studium geeignet“, meint der Berufsberater Hans Rettler, „manche sind mit einer Ausbildung zum Beispiel besser aufgehoben.“ Der promovierte Psychologe unterstützt auf Basis langer Gespräche und eignungsdiagnostischer Tests sowohl Schüler als auch Studierende beim Ausloten ihrer Zukunftsperspektiven. Welche Richtung nach dem Schulabschluss die passendste ist, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab.
Eine wesentliche Dimension seien sicherlich die Fähigkeiten einer Person, erklärt Rettler. Die Konstellation verschiedener Fähigkeiten lege einen Fachbereich fest, ihre Ausprägung das mögliche Niveau, das jemand darin erreichen könne. Abgesehen davon seien jedoch auch die Interessen, der Arbeitsstil und die Leistungsbereitschaft einer Person bedeutsam für ihren zukünftigen Bildungsweg.
„Jemand, der über solide mathematische Kenntnisse und räumliche Vorstellungskraft verfügt“, verdeutlicht Rettler, „könnte Ingenieur werden – aber nur, wenn diese Fähigkeiten auch dem Anspruch des Studiums entsprechen. Außerdem sollte ihn das Fach inhaltlich reizen, er muss bereit sein, viel Zeit zu investieren, viel zu pauken und die Praxis wie auch das Geldverdienen erstmal hinten anzustellen.“
Die Frage ist also nicht nur: Was kann ich? Neben sie reihen sich viele andere: Worauf habe ich Lust? Wie hoch will ich hinaus? Wie viel bin ich bereit zu geben? Mag ich es lieber praktisch oder theoretisch? Brauche ich Strukturen oder organisiere ich mich selbst?
Bei Simon kamen einige dieser Fragen erst im Nachhinein auf. Zu seinem Abbruch bewegten ihn letztlich die Anonymität und die mangelnde Struktur an der Universität. „Ohne feste Ansprechpartner und in der Masse der Studierenden fühlte ich mich verloren“, gibt er offen zu. „Genauso schwierig fand ich es, keinen geregelten Alltag zu haben. Als Student musst du alles aus eigenem Antrieb schaffen. Es gibt niemanden, der dir sagt, was zu tun ist. Mir war dieser Freiraum eher eine Last.“ Nach drei Jahren und langem Ringen mit sich selbst reichte Simon die Exmatrikulation ein, machte eine 180-Grad-Kehrtwende und bewarb sich für einen Ausbildungsplatz bei der Heidelberger Sparkasse. Dort fühlt er sich wesentlich wohler: „Ich stehe ständig in Kontakt zu meinen Mitarbeitern und habe klare Aufgabenbereiche. Das entspricht viel mehr meiner Arbeitsweise.“
Das DZHW hat die Motive von Studienabbrechern untersucht. Der prominenteste Grund für einen Abbruch sind nach wie vor Leistungsprobleme. Viele hören aber auch auf, wenn ihre Erwartungen an das Studium enttäuscht werden: Ihnen fehlt die nötige Identifikation mit den Inhalten des Faches, aber auch mit dem Konzept eines akademisch-wissenschaftlichen Studiums im Allgemeinen. Ohne diese Begeisterung am Ball zu bleiben, ist es anstrengend und selten aussichtsreich.
Ein weiteres Abbruchmotiv, das heute deutlich häufiger genannt wird als noch vor zehn Jahren, ist die mangelnde praktische Ausrichtung des Studiums. Fast jeder sechste Abbrecher vermisst praktische Tätigkeiten wie auch den Berufsbezug und will schnellstmöglich Geld verdienen. Das Forscherteam des DZHW zieht daraus folgenden Schluss: Wenn immer mehr junge Menschen studieren und gleichzeitig immer mehr mangels praktischer Orientierung wieder damit aufhören, so kann dies nur bedeuten, dass es immer mehr Studienanfänger gibt, die gar nicht für eine akademische Ausbildung geeignet sind.
[dropcap]E[/dropcap]s sind Weihnachtsferien. Die 21-jährige Maria liegt auf dem Sofa im Haus ihrer Eltern und trinkt Erkältungstee. „Die letzten Tage waren etwas anstrengend“, erklärt sie schmunzelnd. Maria ist gelernte Zimmerin und bis kurz vor Heiligabend war sie damit beschäftigt, eine Scheune im Innenhof ihrer WG zu einem Partyraum auszubauen.
Trotz ihres sehr guten Abiturdurchschnitts entschied sich Maria gegen ein Studium. Nach der Zeugnisvergabe wanderte sie zu Fuß von Düsseldorf nach Hamburg, lebte zwischenzeitlich in Berlin, arbeitete auf einem Selbstversorgerhof in der Schweiz und trampte nach Ungarn. „Ich hatte so einen starken Tatendrang. Ich wollte draußen sein, etwas Praktisches machen, anpacken, und nicht wie die letzten zwölf Jahre meine Zeit in Lehrsälen absitzen und zuhören.“ Deshalb legte sie ihren Alternativplan, Agrarwissenschaften zu studieren, ad acta und begann ein Jahr später ihre Lehre zur Zimmerin.
Dass im Gegensatz zu Maria für viele ein Studium die erste und einzige Wahl scheint, liegt unter anderem an der weitläufigen Privilegierung des Akademischen. Bereits in den Schulen werden praktische und künstlerische Neigungen kaum gewürdigt. „Sie sind einseitig auf das Kognitive und die meist nur kurzfristige Wissensakkumulation orientiert“, kritisiert der Philosoph Julian Nida-Rümelin in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „das Ästhetische, das Technische, das Soziale kommt zu kurz.“ Kein Wunder also, dass ein Studium oft naheliegender erscheint als manche Ausbildung. Und besonders in Akademikerfamilien ist es häufig gar keine Frage, zur Universität zu gehen: Mehr als die Hälfte aller Studierenden hat mindestens ein Elternteil mit Hochschulabschluss.
Hinzu kommt das positive Image eines akademischen Bildungswegs: Vor allem von Studienabbrechern oft genannte Argumente für ein Studium sind laut dem DZHW die Hoffnung auf gesellschaftliche Anerkennung, günstige Jobaussichten und gute Gehaltsmöglichkeiten. Statistisch gesehen ist das auch berechtigt: Akademiker mit Masterabschluss verdienen im Durchschnitt 28 Prozent mehr als Nicht-Akademiker. Je nach Berufsfeld kann sich dieser Effekt aber sogar umkehren: So hat ein Verlagskaufmann beispielsweise ein höheres Einkommen als ein Dolmetscher. „Man fährt oft besser, auch ökonomisch-materiell, mit einer Berufsausbildung anstatt eines Studiums“, bestätigt Nida-Rümelin.
Ihren Eltern verschwieg Maria zuerst ihren Entschluss, eine Lehre zu machen. „Ich wusste, dass sie davon ausgingen, ich würde wie sie studieren. Sie beide waren die ersten in der Familie mit einem Hochschulabschluss, haben sich viel erarbeitet und hatten wohl gehofft, ich würde das fortsetzen“, erzählt die 21-Jährige, „es hat mich richtig gestresst, ihnen früher oder später beibringen zu müssen, dass das nicht passieren würde. Anfangs haben sie mich dann auch gar nicht ernst genommen.“
Der ehemalige Kulturstaatsminister Nida-Rümelin hat den Begriff des „Akademisierungswahns“ geprägt. Er sieht darin eine Gefahr. Das Ausweiten und Bevorzugen der akademischen Welt führe nicht nur zum Qualitätsverlust ebendieser, sondern entwerte auch das Ansehen der beruflichen Bildung. „Es ist falsch, Jugendlichen zu suggerieren, dass sie auf ihrem Bildungsweg gescheitert sind, wenn sie nicht die Hochschulreife erreichen und dann ein Studium aufnehmen“, schreibt er. Das zeuge von mangelndem Respekt vor der Qualität einer Berufsausbildung.
Und es führt dazu, dass die Attraktivität der akademischen Welt unverhältnismäßig steigt, dass mehr Studienberechtigte sich dazu aufgefordert fühlen, diese Berechtigung auch einzulösen – ungeachtet ihrer persönlichen Interessen, Wünsche und Begabungen. Sich gegen diese Konvention zu stellen, gegen die leisen Erwartungen von Eltern, Freunden und Bekannten, verlangt auch Mut.
Maria war mutig und blieb bei ihrem Plan. Sie zog aus der Großstadt in die 2000-Einwohner-Gemeinde Lienzingen und begann ihre Lehre zur Zimmerin in einem kleinen Betrieb. Die Ausbildungszeit war anstrengend und oft nicht schön. Das lag vor allem an Marias Sonderrolle – als Abiturientin und als Frau. „In der Berufsschule fühlte ich mich total unterfordert“, erinnert sie sich. „Und nach einem Jahr musste ich in einen größeren Betrieb wechseln, in dem klare Rollen und Führungsstrukturen herrschten. Die Arbeit dort war zermürbend. Eine Fünfzig-Stunden-Woche auf dem Bau zehrt sowieso an den Kräften. Aber dann wurden mir auch noch andauernd dumme, sexistische Sprüche reingewürgt.“
Bereut hat Maria ihre Entscheidung dennoch kein einziges Mal. „Mir ist klar, dass diese Arbeit hart ist und nicht immer alles Spaß machen kann.“ Es sei ihre ganz persönliche Begeisterung für das Handwerk, für den Inhalt ihrer Arbeit, erklärt sie, die solche Randbedingungen aufwiege. Maria lächelt, während sie über Schrauben, Hämmern und Hobeln spricht. „Mir fällt jedenfalls nichts ein, was ich lieber machen würde.“
Von Anais Kaluza