Anfangs vom Etablissement verachtet, ist er inzwischen selbst in bürgerlichen Kreisen anerkannt – Gregor Gysi ist schon lang nicht mehr aus der bundesrepublikanischen Politik wegzudenken. Bei seinem Vortrag in der Heidelberger Stadthalle gewährte der eloquente Redner Einblicke in sein bewegtes Leben. Am Ende ist eines klar: Der „Zweckoptimist“, wie er sich selbst nennt, ist noch lange nicht am Ziel.
„Ich habe schon als Kind gelernt, dass man Sätze nicht mit ,Ich‘ beginnen soll“, stellt der kleine Mann direkt zu Beginn seines Vortrages in der prall gefüllten Heidelberger Stadthalle klar. Das scheint zunächst verwunderlich, geht es doch an diesem Abend um seine Biographie, doch während Gysi liebend gern ins Plaudern über sich, sein Leben und die Politik kommt: An guten Manieren fehlt es ihm nicht.
Das ist auch kaum verwunderlich, kommt der ehemalige Fraktionsvorstizende der Linken doch aus den besten Verhältnissen. Aufgewachsen als Sohn eines Parteifunktionärs und behütet durch Haus- und Kindermädchen, hat er zu den besonders Privilegierten in der DDR gezählt. Doch dann kam Honecker und machte ihm einen Strich durch die Rechnung: Per Gesetz ward entschieden, dass jeder Abiturient eine Berufsausbildung ausüben muss, um den Draht zur Arbeiterklasse nicht zu verlieren. So kam es, dass Gysi zunächst Rinderzüchter wurde, was ihm aber – wie er beteuert – im Nachhinein in seiner politischen Laufbahn nicht geschadet hat. „Ich habe gelernt mit Hornochsen umzugehen“, erläutert er schmunzelnd.
Letztlich hat er dann aber doch noch studiert. Dass es ausgerechnet Jura werden würde, war ihm dabei anfangs gar nicht so klar, bis ihm der Mann einer Bekannten mit der Äußerung „Jura ist ein Studium für Doofe“ die Sache schmackhaft machte. „Ich wollte aber kein Richter werden. Entscheiden ist nicht so meins. Ich bin besser darin Anträge zu stellen“, führt Gysi aus. Damit hat der Ostberliner zur verschwindend kleinen Minderheit von rund 600 Anwälten in seiner Zeit gezählt. Sein Tipp zum Erfolg: „Man muss die Interessen der anderen kennen“ und so gelang es dem ehemaligen SED-Mitglied seine Parteikontakte bisweilen zu Gunsten seiner regimekritischen Mandanten zu nutzen.
Kaum zu bremsen, wenn er redet, berührt Gysis Vortrag auch immer wieder die großen politischen Fragen unserer Zeit. Von der Flüchtlingskrise bis zur sozialen Ungleichheit in der globalisierten Welt bleibt nichts ausgespart. Dabei präsentiert er sich als undogmatischer Linker: Jeder müsse, so Gysi, von seinen festgefahrenen Ideologien abrücken können, um einen Dialog zu ermöglichen.
Gerade er hat in der Zeit nach der Wende zu spüren bekommen, wie es ist, in eine Ecke gedrängt zu werden. Vom Vorwurf, er sei Stasi-Mitarbeiter gewesen, bis hin zu Anschuldigungen, er hätte erwogen die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu sprengen, habe er sich mit vielen Anfeindungen konfrontiert gesehen. Wäre er kein Zweckoptimist – er hätte vermutlich bereits resigniert. Doch es kam anders. Inzwischen, so erzählt der 70-Jährige, ist er froh ein anerkannter Politiker zu sein.
Sein nächstes Ziel: Alterspräsident des Bundestages zu werden. „Dann müssten bei der konstituierenden Sitzung alle für mich aufstehen und dann quatsche ich die stundenlang in Grund in Boden“ – schließlich sind dann noch keine Redezeiten festgelegt.
Von Justin Reuling