Irgendwo zwischen Monarchiebegeisterung und Luxusproblemen liegt Liechtenstein.
Unser Autor weiß aus eigener Erfahrung, welche Eigenartigkeiten den Zwergstaat besonders machen
[dropcap]G[dropcap]enau betrachtet ist es eigenartig. Da gibt es mitten in den Alpen einen Staat, der mit 160 Quadratkilometern gerade einmal halb so groß ist wie Frankfurt am Main. In den letzten – an Kriegen und Annexionen nicht gerade armen – 300 Jahren hat es dieses kleine Fürstentum namens Liechtenstein aber geschafft, unabhängig zu bleiben. Fast wie in der russischen Geschichte konnten weder Napoleon noch Hitler Liechtenstein etwas anhaben. Nur dass es in diesem Fall nicht an den unendlichen Weiten lag, sondern an der Bedeutungslosigkeit. Napoleon ließ das Fürstentum bestehen, weil er hoffte, er könne durch das nutzlose Ländchen mit dem Fürsten einen Fürsprecher am Wiener Hof gewinnen. Hitler soll, als er 1939 von einem gescheiterten Putsch liechtensteinischer Nationalsozialisten für den Anschluss an Großdeutschland erfuhr, gesagt haben, die Sache solle in Ruhe gelassen werden, man wolle sich vor der Welt ja nicht lächerlich machen.
Immer zum 15. August eines jeden Jahres erstrahlt spätabends hoch über den Dächern des kleinen Ortes Vaduz im Alpenrheintal ein glühendroter Schriftzug. „Für Gott, Fürst und Vaterland“ steht da in von Pyrotechnik erleuchteten Lettern an der Mauer des Schlosses Vaduz geschrieben. Und das Volk, das sich unten in den Straßen versammelt hat, blickt staunend empor zu den Zinnen jenes alten Gemäuers, um diesen Spruch mit nahezu frenetischem Jubel zu beklatschen. Es ist Fürstenfest in dem kleinen, zwischen Österreich und der Schweiz eingeklemmten Staat Liechtenstein. Natürlich heißt es offiziell Staatsfeiertag, doch seit seiner Einführung im Jahr 1940 nennt man das Fest umgangssprachlich nach dem, um den es eigentlich geht. Das Fürstenfest findet jedes Jahr mit einem riesigen Feuerwerk und dem leuchtenden, der Monarchie huldigenden Slogan an der Schlossmauer sein Ende. Unverhofft wird man als Zuschauer Zeuge eines Spektakels, das für einen Deutschen vielleicht wie aus der Zeit gefallen scheint, im Kleinstaat Liechtenstein jedoch völlig normal und kritiklos vonstattengeht. Denn der patriotische Liechtensteiner ist konservativ und fürstentreu – und er weiß dies auch zu zeigen.
Das Jahr 2019 wird ein besonderes werden für Liechtenstein und sein alljährliches Fürstenfest, denn man wird ein Jubiläum zu feiern haben, von dem die große weite Welt aber wohl kaum etwas mitbekommen wird. Das Fürs-tentum kann in diesem Jahr nämlich seinen 300. Geburtstag feiern. Im Jahr 1719 hatte Karl VI., der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, zwei kleine Herrschaften auf der Ostseite des Rheintals zu einem Territorium vereinigt und in den Status eines Fürstentums erhoben. Jene waren einige Jahre zuvor aus Prestigegründen von einer österreichischen Adelsfamilie namens Liechtenstein gekauft worden und das neue Fürstentum sollte nun deren Namen erhalten. Damit war Liechtenstein zwar noch kein eigenständiger Staat, denn hierzu bedurfte es 1806 erst der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches. Doch zumindest waren die Grenzen und der Name geschaffen, die bis heute bestehen und das Fürstentum zum einzigen Staat der Erde machen, der nach einer Familie benannt wurde.
Es ist nicht leicht, Liechtenstein für Außenstehende zu erklären. Das fängt schon bei der allgemeinen Begeisterung für die Monarchie an. So mag die enge Verbindung der Existenz Liechtensteins mit der Fürstenfamilie wohl einen Teil der Monarchietreue der meisten Liechtensteiner erklären. Doch auch der allgemeine Wohlstand des Staates spielt in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. Denn wer Wohlstand hat, der wünscht sich Stabilität und welche Staatsform steht wohl mehr für Stabilität und Vorhersehbarkeit als eine konstitutionelle Erbmonarchie? Es gibt zwar durchaus ein demokratisch gewähltes 25-köpfiges Parlament und eine Regierung in Liechtenstein, doch mit Vetorecht und Befugnissen zur Notstandsregierung sind Fürst Hans-Adam II. und der regierende Erbprinz Alois dennoch nicht nur die reichsten, sondern auch die mächtigsten Monarchen Europas. Doch die Monarchiebegeisterung im Kleinstaat geht sogar so weit, dass das liechtensteinische Stimmvolk die Machtbefugnisse des Fürsten 2003 in einer neuen Verfassung per Volksabstimmung mit einem Ja-Anteil von 64,3 Prozent noch ausweitete. Der Fürst hatte zuvor gedroht, bei einem Nein das Land zu verlassen und sich in eines seiner Schlösser in Wien zurückzuziehen. Immerhin hat seither jede der elf Gemeinden des Landes offiziell das Recht, sich per Volksabstimmung vom Staat Liechtenstein für unabhängig zu erklären. Dass dieser Vorgang – auch aus demokratietheoretischer Sicht – zu besorgter Kritik nicht nur von Seiten des Europarates führte, hatte im Grunde nur wenige Auswirkungen. Bei einer Abstimmung im Jahr 2011 über die Legalisierung der Abtreibung sorgte schon nur die Vorankündigung eines Vetos durch den seit 2004 regierenden Erbprinzen Alois dafür, dass die Vorlage abgelehnt wurde. Als dies dennoch für Empörung sorgte, stimmten in einer neuen Abstimmung im Jahr 2012, diesmal nur über das Vetorecht, sogar 76,1 Prozent gegen dessen Abschaffung – natürlich nicht ohne dass der Fürst erneut mit seinem Wegzug gedroht hatte. Eine Beschneidung der Monarchie in Liechtenstein ist also nicht ernsthaft abzusehen.
Man kennt Liechtenstein – sofern man es überhaupt kennt – vor allem als Steuerparadies. Es ist tatsächlich wahr, dass die Steuern in Liechtenstein sehr niedrig sind, vor allem, weil diese eine der zentralen wirtschaftlichen Strategien des Kleinstaates darstellen. Dass man in Liechtenstein aber gar keine Steuern zahlt, ist zwar als Klischee weit verbreitet, entspricht jedoch auch nicht der Wahrheit. Die starke Ausrichtung auf die Finanzwirtschaft hat Liechtenstein innerhalb von wenigen Jahrzehnten von einem der ärmsten Länder Europas zu einem der reichsten der Welt gemacht. Lange setzte man dabei gezielt auf die Strategie, ausländisches Geld in Liechtenstein zu verstecken. Auch wenn sich in den letzten Jahren auf ausländischen Druck einiges geändert hat, ist es nicht gerade eine zu begrüßende Tatsache, dass eine der bekanntesten Steuerhinterziehungs-Banken Liechtensteins, die LGT, dem Fürsten gehört. Dass es in Liechtenstein auch einen großen Industriesektor gibt – so kommen zum Beispiel die Hilti-Bohrmaschinen aus dem Kleinstaat – geht dabei wohl nicht zu Unrecht oft unter. Selbiges gilt auch für den Tourismus, denn nicht nur Chinesen flanieren im Sommer massenhaft durch Vaduz, sondern auch viele Deutsche, die im Winter in dem winzigen Skigebiet Malbun häufig noch etwas Kleinstaatenluft schnuppern.
Am besten versteht man Liechtenstein aber wohl, wenn man die Außenperspektive einnimmt. Wie kurios es ist, aus einem Kleinstaat zu kommen, wird dem Liechtensteiner nämlich erst bewusst, wenn er einmal richtig ins Ausland geht. Der Begriff „richtig“ ist hier durchaus angebracht, denn es kann in Liechtenstein schon einmal passieren, dass man beim Wandern aus Versehen im Ausland landet, nur weil man nicht gesehen hat, dass man an einem Schild mit der Aufschrift „Republik Österreich“ vorbeigegangen ist. Im „richtigen“ Ausland lernt man aber dank einiger FAQs schnell, wie es ist, besonders zu sein, ohne wirklich etwas dafür geleistet zu haben. „Ja, bei uns leben mit 37 000 Einwohnern wirklich nur so viele Leute wie in deiner Straße“, „Nein, bei uns gibt es kein Gottesgnadentum mehr, zumindest seit 2003“, „Ja, mein Cousin war tatsächlich Wirtschafts-, Innen- und Justizminister in einer Person“, „Natürlich darfst du mal meinen Führerschein, Personalausweis und auch meinen Krankenkassenausweis sehen“. Er wird sich aber auch bewusst, wie wenig wirkliche Probleme es in seinem Land überhaupt gibt. Da wird es schon mal schnell zur wichtigsten politischen Debatte des ganzen Jahres – so tatsächlich passiert im Jahr 2017 – ob man nun zum 300-jährigen Jubiläum eine Hängebrücke für zwei Millionen Franken in ein unberührtes Gebiet in den Bergen bauen soll, weil es doch ein schönes Symbol für Verbundenheit wäre. In Liechtenstein reagiert man auf solche Konflikte, indem man seine Meinung per Leserbrief in einer der beiden Landeszeitungen Vaterland oder Volksblatt kundtut. Denn was die Mentalität angeht, ist man in Liechtenstein die Entwicklung von den Heuwendern zu den Treuhändern noch nicht ganz mitgegangen.Es gab Zeiten, da existierten auf dem Gebiet, das sich heute Deutschland nennt, unzählige Kleinstaaten. Liechtenstein ist neben Luxemburg als einziger davon übriggeblieben. Wer verstehen will, wieso diese kleine Monarchie in den Alpen heute etwas aus der Zeit gefallen scheint, sollte sich dies vielleicht bewusst machen. Dann könnte man 2019 zum Jubiläum vielleicht doch einmal der Tatsache gedenken, dass die gute alte deutsche Kleinstaaterei nicht überall ihr Ende gefunden hat.
Von Cornelius Goop