Das Heidelberger Queer Festival feiert Geburtstag. Seit zehn Jahren ist es ein weltweites Vorbild für die queere Kulturszene
[dropcap]W[/dropcap]enn es queer gibt, tut das einer Stadt einfach gut.“ Martin Müller weiß, wovon er spricht. Als einer der beiden Gründer und Organisatoren des Heidelberger Queer Festivals kennt er sich in der Kultur- und Queer-Szene Heidelbergs bestens aus.
Das Queer Festival feiert dieses Jahr seinen zehnten Geburtstag. 2009 starteten Martin Müller und Dominik Hauser an einem Wochenende mit kleinem Programm: zwei Konzerte und eine Lesung. Damit erreichten sie gerade einmal 300 Besucher und trotzdem wurde ein Meilenstein in der queeren Entwicklung für Heidelberg und Deutschland gesetzt. Mittlerweile sind es mehr als 5000 Besucher aus ganz Deutschland, die von dem Programm aus Partys, Konzerten, Lesungen, Filmvorführungen und Podiumsdiskussionen angezogen werden.
Das Festival zelebriert nicht nur queere Kultur und Feierszene, sondern trägt unter anderem durch Podiumsdiskussionen zu aktuellen und teilweise kontroversen Themen zu einem gesunden Diskurs bei. Im gemeinsamen Gespräch räumt Festivalvater Martin ein, dass Heidelberg grundsätzlich eine progressive Stadt sei, was den Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten angeht. Jedoch kamen ihm sexuelle Minderheiten und queere Menschen in der Stadt vor zehn Jahren noch stark unterrepräsentiert vor. Das war schließlich ausschlaggebend für die Gründung des Queer Festivals. Über die Jahre hinweg entwickelte sich das Festival fort und nahm immer mehr gesellschaftliche und politische Inhalte in das Programm auf. „Wir wollen sehr integrativ sein und die Stadtgesellschaft für unser Anliegen sensibilisieren“, erläutert Martin eines der Ziele des Queer Festivals.
Und es funktioniert: „Veranstaltungen wie das Queer Festival zeigen, wie bereichernd Diversität für unsere Gesellschaft sein kann, und wie wichtig es ist, für Werte wie Toleranz und Weltoffenheit zu kämpfen“, schreibt Bürgermeister Eckart Würzner in seinem Grußwort im Festivalguide.
In diesem Jahr sticht das Programm durch seine Vielfältigkeit in besonderem Maße hervor. Aktuelle Themen wie die Einführung der Homoehe, die MeToo-Debatte oder die Frage, ob Verfolgung aufgrund der sexuellen Identität ein Asylgrund ist, stehen zusätzlich zu Partys und Konzerten auf der Agenda. So wird bereits zum zweiten Mal das „Roof Top Cinema“, ein Freiluftkino auf einem Heidelberger Dach, veranstaltet. Gezeigt wird der Film „Mister Gay Syria“ unter persönlicher Anwesenheit des Hauptdarstellers.
Auch die Gäste des Festivals schätzen das breitgefächerte Angebot. Eine junge Besucherin beim Konzert des britischen Musikers Kele Okereke erzählt zum Beispiel, dass sie nicht nur Konzerte besucht, sondern auch am Tanzworkshop und der anschließenden Performance „Sexless Babe“ teilnehmen werde. „Ich schätze es, dass es nicht nur Partys und Konzerte gibt, sondern auch großer Wert auf Tanz, Kunst und Film gelegt wird.“ Damit erfasst das Festival auch Bereiche, die in der queeren Szene oft etwas zu kurz kommen. So wandelbar wie das Festival ist auch der Künstler Kele Okereke: Auf dem Konzert spielt er Songs aus seinem neuen Album Fatherland; die Akustikgitarre in Kombination mit seiner samtweichen Stimme klingt wie aus einer anderen Welt. Dass er vorher mit der Indieband Bloc Party Rockmusik spielte und danach im Alleingang (als Kele) mit elektronischer Musik Erfolge feiern konnte, macht ihn zu einem Allrounder.
Ein junges Paar aus Hamburg, das seit kurzem hier lebt, erzählt dem ruprecht, dass das Festival für sie ein Highlight sei. „Ein so tolles queeres Nachtleben wie in Hamburg gibt es in Heidelberg ja nicht, dafür muss man schon nach Mannheim fahren. Deswegen ist so ein langes Festival mit vielen Events halt eine richtig nice Sache“, erzählt die junge Frau. Ihre Freundin ergänzt, dass sie gerade den Mix aus Veranstaltungen verschiedenster Art liebt, die es sonst auf Festivals selten gebe.
Dass die Gründer vor zehn Jahren Pionierarbeit geleistet haben, reflektiert bereits der Name des Festivals: Queer. Der Begriff stammt aus dem Englischen und bedeutet im ursprünglichen Sinne so viel wie eigenartig, seltsam, sonderbar. Die anfänglich negative Konnotation wurde mit der Verwendung durch Mitglieder der LGBTQ*-Community gewandelt. Mittlerweile ist es eine Art Sammelbezeichnung für Lesben, Schwule, Bi- und Pansexuelle sowie transgender Personen geworden. Der LGBTQ*-Kategorisierung haben Martin und Dominik von vornherein bewusst entsagt: „Wir haben von Anfang an den Begriff queer genutzt – das war vor zehn Jahren äußerst modern – weil wir von dem Labeling der LGBTQ*-Betitelung absehen wollten. Wenn wir sagen: ‚für queere Menschen‘, dann kann sich jeder Besucher selbst definieren und sich unter diesem Sammelbegriff wohlfühlen.“ Man sei Teil einer Gruppierung, müsse sich aber nirgendwo unterordnen: „Geschlechteridentität ist mehr und das war uns in der Namensfindung wichtig, um niemanden auszugrenzen.“ Und darüber hinaus „darf auch jemand kommen, der das Ganze mit seinem Herzen unterstützt, bei LGBTQ* aber gar kein Label hätte.“
Der Titel des Festivals stößt zum Teil jedoch auf Kritik: ein Gast, Mitte 40, erzählt, dass er den Begriff zu vage findet. „Das Wort spricht eben nicht exklusiv Schwule, Lesben, Bisexuelle und transgender Menschen an, sondern ist so wischi-waschi“. Zudem handele es sich bei der Frage nach der Wortwahl – ob nun queer, schwul, lesbisch oder LGBTQ* – vor allem um ein Phänomen der jüngeren Generationen, die eine Definition ihrer Zugehörigkeit wohl höher gewichten.
Teilhabe und Zugänglichkeit ist der metaphorische rote Faden bei dieser Veranstaltungsreihe im Mai. Das äußert sich durch teilweise kostenfreie und sonst äußerst günstige Eintritte, behindertengerechte Zugänge und den grundsätzlichen Verzicht auf eine Türpolitik, so Martin. „Wir verlangen immer den untersten möglichen Preis. Man erhält vom Management eine Preisspanne und wir wählen ausnahmslos den günstigsten Kartenpreis, ohne den Wert des Künstlers und seine Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren.“ Schließlich hat auch Kultur ihren berechtigten Preis und Wert. Daneben ist die inhaltliche Teilhabe im letzten Jahrzehnt des Festivals ebenfalls gewachsen und hat sich internationalisiert. Konkret finden im Karlstorbahnhof und anderen Kulturstätten acht Konzerte, vier Partys, drei politische Veranstaltungen, zwei Filmvorführungen, zwei Tanzperformances und eine Vernissage statt. „Über die Jahre haben wir es geschafft, die anderen Player, die es im queeren Umfeld gibt, mitzunehmen. Jetzt im nächsten Schritt schauen wir inhaltlich über den Tellerrand hinaus, was zum Beispiel die Flüchtlingsdebatte angeht oder grundsätzlich Frauenrechte“, so Martin.
Dass Martin von Anfang an mit dem Herzen und voller Überzeugung hinter seinem Projekt stand und es noch immer tut, wird während des Gespräches immer wieder deutlich, wenn er den schockierend geringen Anteil an Frauennamen in Heidelberger Straßenbezeichnungen nennt, von seiner Lektüre zu Gendertheorie berichtet und die auf dem Festival auftretenden Musiker und ihre Besonderheiten beschreibt. „Musik ist unser Grundansatz. Die Arbeit der Leute aus der Musikszene, wie damals in der Discokultur, prägt uns bis heute nachhaltig. Man muss auch sagen, dass viele Movements wie das Voguing oder Drag von People of Color aus Amerika stammt.“
Und indem Martin und Dominik Musiker wie die Dragqueen Big Freedia aus den USA, den Singer-Songwriter Kele Okereke aus England, Techno-DJ Peggy Gou aus Südkorea oder den Electrosoulmusiker Nakhane aus Südafrika einladen, tragen sie erheblich zur internationalen Teilhabe des Queer Festivals bei. „Man muss sich im Klaren sein, dass Homosexualität noch immer in 72 Ländern der Welt unter Strafe steht, in vielen sogar unter Todesstrafe. Und es ist unsere Aufgabe als Veranstalter, an der Globalisierung des Bewusstseins darüber mitzuarbeiten und einen Beitrag zu leisten. Internationale Künstler fanden unsere Arbeit bisher immer unterstützenswert.“ Zum Beispiel Rzouga Selmi, ein queerer Aktivist und Geflüchteter aus Tunesien, der als Panellist bei der Diskussion und Filmvorführung „Global Queer Diversity“ auftritt. Für ihn ist das Queer Festival ein Safe Space, geschaffen von der queeren Gemeinschaft für die queere Gemeinschaft. Rzouga Selmi arbeitet mit den Vereinen PLUS und Unicorn Refugees aus Mannheim, um den eindimensionalen Blick auf Flüchtlinge, Religion und queere Sexualität zu verändern und zu erweitern.
Der Erfolg des Festivals lässt sich also einerseits in der Zustimmung der internationalen Musik- und Kunstszene spüren. Andererseits war es vor acht Jahren noch außerordentlich schwierig, Unterstützung und Sponsoring durch Firmen, Radiosender und andere zu gewinnen. Mittlerweile werden die beiden Festivalorganisatoren mit offenen Armen von Heidelberger Adressaten empfangen, wenn sie eine Location oder Kooperation anfragen. Schließlich konnte das Queer Festival über die Stadtgrenzen hinaus inspirieren: „Im Moment ist es tatsächlich so, dass Städte uns anschreiben und um Erfahrungsberichte und Ratschläge bitten. Also Gleichstellungsbeauftragte aus Kommunen, beispielsweise Hamburg oder Nürnberg“, erzählt Martin.
Tatsächlich ist das Heidelberger Queer Festival nicht nur das erste, sondern auch das einzige Festival der Art mit solch einer Ausstrahlung in Deutschland. Auch das Konzept des Festivals ist einzigartig: Während es weltweit in hunderten Städten CSD-Paraden gibt, und schwul-lesbische Filmfestivals selbst in Ländern wie Russland stattfinden, existieren mehrwöchige Festivals mit einer weit gefächerten Bandbreite an Events, wie es das Heidelberger Festival bietet, selbst in Weltstädten wie New York oder Melbourne erst seit zwei bis drei Jahren. Das Heidelberger Queer Festival war also nicht nur in Deutschland, sondern weltweit bahnbrechend.
Für die Zukunft wünscht sich Martin weiterhin Expansion: „Unser Festival ist zwar inzwischen groß, im letzten Jahr hatten wir 5000 Besucher. Aber eigentlich müssten es 50 000 sein. Da ist noch Luft nach oben.“ Aber die grundlegenden Ziele – Respekt für queere Menschen, das Ende von Rassismus und Diskriminierung – bleiben bestehen.
Von Hannah Steckelberg und Bérénice Burdack