An Universitäten in den USA ist der Campus zum politischen Schlachtfeld geworden. Ein Phänomen, das sich auch an deutschen Hochschulen einschleicht
Da sind Leute – regelrechte Menschenmengen – drängelnd, stürmend und schreiend. Unter ihnen, ein Meer an roten Baseball-Kappen, ein Chor, der unermüdlich brüllt: „No Trump, no KKK, no fascist USA”. Vermummte Gesichter erscheinen wie aus dem Nichts und rempeln Polizisten an, die standfest dagegen halten. Hinter ihnen große grelle Buchstaben, die an eine Gebäudewand projiziert werden. „Hass wird uns nicht spalten“, versprechen sie.
Dann der Schuss.
Es ist der 20. Januar 2017, der Tag der Amtseinführung. Etwa 4500 Kilometer vom Weißen Haus entfernt versammeln sich Protestierende auf dem Campus der University of Washington in Seattle, um den Vortrag des Breitbart-Journalisten Milo Yiannopoulos zu verhindern. Die Demo endet abrupt; ein Trump-Anhänger schießt auf ein Mitglied einer sozialistischen Gruppe. Es ist kein gewöhnlicher Tag auf dem Campus. Und doch ist es kein unerwarteter.
„Seit der Präsidentschaftswahl hat sich das politische Klima auf dem Campus stark verändert”, erzählt Christine McManigal, Reporterin für die dortige Universitätszeitung. „Sie hat die politischen Gruppen auf dem Campus neu definiert.” Während die polarisierende Bundestagswahl im vergangen Jahr deutsche Campusse nur leicht bewegte, scheint das amerikanische Studentenleben die nationale Gespaltenheit bis ins Detail zu imitieren. Die Motivation dieser Gespaltenheit unter Amerikas Millennials ist beunruhigend: Es ist die Universität selbst; es ist der Anreiz, Hochschulen wie Firmen zu behandeln. Und es ist ein Trend, vor dem Kritiker der Bologna-Reform schon seit 15 Jahren warnen.
„Wir sind per Du”
Wenn Kalani Tissot sagt, dass er sich eine Karriere in der Politik nicht vorstellen kann, ist das schwer zu glauben. Mit sorgfältig eingestecktem Hemd, Lederschuhen und smarter Brille ist der ehemalige Leiter der Young Democrats stets wortgewandt und ausschließlich diplomatisch. Mit 23 Jahren scheint Tissot wie der Posterboy der Demokraten. „Wir führen seit November oder Oktober 2016 keine offiziellen Debatten mit den College Republicans mehr”, sagt Tissot und deutet auf Chevy Swanson, den Leiter der Republikaner. „Viele von uns wollen einfach nichts mit ihm zu tun haben.” Es ist dieser fehlende Diskurs, der amerikanische Politik neu definiert zu haben scheint: In der Post-Trump-Ära politisch zu sein, bedeutet, sich gleichzeitig einem Lager zu verpflichten.
„Amerikanische Politik ist zu einem Sport geworden: Du feuerst dein Team an, und wenn es schlecht spielt, dann schreist du einfach lauter”, erklärt Politikwissenschaftler Michael McCann. Die Bedeutsamkeit dieses Team-Denkens stellt Tissot selbst unter Beweis, als er bei einer wöchentlichen Versammlung der Young Dems versucht, eine Wahlempfehlung für seine Liste in der bevorstehenden Universitätswahl zu erhalten. „Einer der Kandidaten [der konkurrierenden Liste, Anm. d. Red.] ist Republikaner und er macht kein Geheimnis daraus, für wen er 2016 gestimmt hat”, sagt er. „Und es war nicht Hillary.
Obwohl beide Listen eine ähnliche linksliberale Agenda verfolgen, trägt Tissots Kommentar Früchte: „Können wir für eine Liste mit Ausnahme von einem Kandidaten stimmen?”, will ein Mitglied sofort wissen. Letztendlich stimmt die Gruppe für Tissots Liste – mit einem Votum von 24 zu 3. „Labels spielen doch eine Rolle”, gibt er später schuldbewusst zu.
Diese Einschätzung teilt auch Chevy Swanson, der sich selbst als ultra-rechter Republikaner sieht: „In dem Moment, in dem dein politisches Label aufkommt, wollen sie die Unterhaltung mit dir nicht weiterführen, weil sie denken, sie wüssten, wer du bist.” Zustimmend erzählen seine Parteikollegen davon, wie sie an ersten Dates nie von ihrem Republikanismus erzählen, wie sie Freunde wegen ihrer politischen Ausrichtung verloren haben, wie sie allerdings auch selbst nie „außerhalb der Politik daten” würden, als Swanson sie unterbricht: „Wir kommen aber schon miteinander klar. Mit ein paar der Dems bin ich per Du”, sagt der 21-Jährige über seine gleichaltrigen Mitstudenten.
Die Rechten anstacheln
Wenn er über die vergangenen Proteste redet, grinst Chevy Swanson wie ein kleiner Junge. Sich selbst sieht er als „Abtrünnigen”, er ist stolz darauf, ein Provokateur zu sein. Interne Wahlen bezeichnet er als „rigged” und Interviews an die Unizeitung gibt er oft nur, wenn er sie vor Veröffentlichung redigieren kann, wie sich Reporterin McManigal erinnert.
Swanson ist kein Diplomat. Seine Antworten sind zerstreut und aufrührerisch – und meist fernab von den Fragen, die ihm eigentlich gestellt wurden. Durch den Beitritt zu den anfänglich moderaten Republikanern verlagerte der Gründer von „Huskies for Trump” die Studierendengruppe stark nach rechts.
Es folgten Anti–DACA–Streiks, die Errichtung einer symbolischen „Trump-Mauer” auf dem Campus und Einladungen für Yiannopoulos und die gewalttätige Alt-right-Gruppe Patriot Prayers. „Ein Protest gegen Protestkultur”, nennt er diese Veranstaltungen, immer noch grinsend. Den Vorwurf, er würde damit rücksichtslos das politische Klima auf dem Campus polarisieren, findet er unbegründet. Als Reaktion auf die Teilnahme der Antifa und anderer linker Gruppen an der Yiannopoulos-Demo postete die Facebook-Seite der Gruppe: „Es ist Zeit, dass eure Flamme gelöscht wird. Wenn ihr die Rechten weiterhin anstachelt, könnte euch eine böse Überraschung erwarten.” „Dieses Statement wurde missverstanden”, verteidigt sich Swanson, nicht mehr grinsend. „Außerdem ist das jetzt ein Jahr her und seitdem wurde ja keiner sonst angeschossen.”
Wenn Bildung nicht bildet
An deutschen Campussen scheint diese Gespaltenheit fremd, und das trotz der stark polarisierenden Bundestagswahl im vergangenen Jahr. An der Universität Heidelberg scheint politischer Diskurs sehr leise und hauptsächlich auf lokale Probleme begrenzt zu sein, „was auch frustrierend sein kann”, witzelt Esther Lehnardt, Leiterin des Ressorts Hochschule im ruprecht. „Oft ist alles, was sie machen, über Geld reden.” Eine Hochschulgruppe der AfD existiert hier noch nicht. McCann sieht den Grund für diese Gespaltenheit an amerikanischen Campussen darin, dass Hochschulen Bildung zunehmend nur als Mittel zu einer erfolgreichen Karriere sehen: „Als ich studiert habe, war der Campus ein geschützter Ort, an dem man sich vor der kapitalistischen Kultur zurückziehen konnte, sich ausprobiert hat und lernte, unabhängig zu denken.”
In den Ort, der Studierende einst dazu ermutigte, des Lernens wegen zu studieren, seien nun die Erwartungen der Außenwelt eingedrungen: Politisches Engagement sei ein weiterer Stichpunkt auf dem Lebenslauf, unzählige Tests schätzen es mehr, Wissen zu erwerben, als darüber zu reflektieren, und der Antrieb zu studieren bestehe darin, seine Schulden zurückzuzahlen – amerikanische Bildung ist zu einem Business geworden und Studierende zu seinen Angestellten. „Heutzutage wollen Universitäten mehr Studierende in geringerer Studienzeit herauspressen. Das vermindert die Zeit und den Willen für Reflexion. Und weniger Reflexion macht Labels bedeutsamer und Menschen unpolitischer.” Der deutsche Studierende ist mit McCanns Worten vertraut: Es ist genau jene Argumentation, die Kritiker der Bologna-Reform aufbringen, seit diese 1999 beschlossen und 2003 eingeführt wurde. Arbeitsmarktfähigkeit über Bildung zu stellen, distanziert junge Menschen von dem unvoreingenommenen Label „Student” und drängt sie dazu, sich in engen Kategorien zu definieren, die wiederum von der Politik beeinflusst werden. „Ich glaube, das Letzte, mit dem ich mich identifiziere, ist ‚Student’. Es ist keine beeindruckende Bezeichnung und bedeutet einfach nicht viel”, erklärt Swanson. Daniel Al-Kayal, Sprecher der Jusos an der Universität Heidelberg, ist anderer Meinung: „Im Moment sehe ich mich zuerst als Student und dann als Sozialdemokrat.” Lehnardt nickt: „Hier ist man eher dazu geneigt, sich erst über seinen Studiengang oder seine Hobbys zu definieren, bevor man überhaupt an Politik denkt.”
Leere Räume
Da ist dieser Raum – nicht größer als 15 Quadratmeter – dunkel, staubig und überfüllt. Auf der linken Seite Bernie Sanders als lebensgroßer Pappkarton, die Arme verschränkt, dicht neben dem Poster eines lachenden Barack Obama. Auf der rechten Seite krümmt sich das größte Trump-Wahlplakat, das in das Zimmer passt, gefolgt von einem Foto von Ronald Reagan und einem Schild mit gekritzelter Aufschrift. „Wir sind nicht für den Sozialismus gestorben“, steht darauf.
Es ist der 24. Mai 2018 an der University of Washington. Etwa 320 Meter entfernt von dem Ort der Schießerei im vergangenen Jahr teilen sich College Republicans und Young Democrats ein Büro im Keller eines Universitätsgebäudes. Seit 2016 ist hier die Anwesenheit zurückgegangen: „Eines unserer Aufsichtsratsmitglieder hat sich in Anwesenheit der anderen ‚unwohl’ gefühlt”, erzählt Tissot. „Aber ich glaube, das hat mehr mit Unreife zu tun.” McCann zufolge sei die beliebte Frage, ob Millennials politisch sind, völlig irrelevant. Die Frage, die wir stattdessen stellen sollten, ist: Wird Millennials der Raum gegeben, frei zu denken, und wird ihnen beigebracht, dass diskutieren wertvoller ist als gewinnen? Wenn nicht, enden wir genau dort, wo die Amerikaner jetzt sind. Wir werden eine unpolitische Gesellschaft haben, die sich mit keiner politischen Mitte identifizieren kann; wir werden Labels, die uns spalten, noch bedeutsamer machen als jene, die uns vereinen; und wir werden eine Generation politischer Anführer erzogen haben, die sich selbst nicht als Vermittler sehen, sondern als Sportler in einem Team. „Jeder hat eine Meinung zu Trump”, widerspricht Swanson begeistert. „In Trumps Amerika ist jeder politisch.” Das mag durchaus sein. Doch der Raum bleibt nach wie vor leer. Und bei einer Demo den Abzug zu drücken, ist kein Anfang einer Diskussion, sondern bleibt nach wie vor ein Schuss ins Blaue.
Von Sonali Beher