Parties, neue Freunde und aufregende Reisen: Ein Erasmus-Semester gilt als die beste Zeit im Studium. Doch für viele hat der Auslandsaufenthalt auch Schattenseiten
[dropcap]E[/dropcap]in Auslandsjahr ist für viele Studierende ein Traum und wird von allen Seiten in den höchsten Tönen angepriesen. Im Jahr 2015 waren rund 32 000 Studierende mit dem Erasmus-Programm für drei bis zwölf Monate im Ausland, um ihr Studium unter anderen Einflüssen zu erleben, die eigenen Sprachkenntnisse zu verbessern und eine andere Kultur kennenzulernen. Alle 28 Länder der Europäischen Union sind mittlerweile Teil des Programms, dazu kommen noch zahlreiche Partnerländer außerhalb der EU, sodass Erasmus inzwischen nahezu in der ganzen Welt erlebbar ist. Doch was ist, wenn man in einem fremden Land überhaupt nicht zurechtkommt oder von Heimweh geplagt wird? Was ist, wenn das eigene Auslandsjahr nicht die beste Zeit des Lebens ist? Was, wenn es nur ganz okay ist oder einem gar nicht gefällt? Über solche Erfahrungen spricht kaum einer, doch es gibt sie.
„Die ersten Tage können extrem hart sein“, erklärt ein Student aus Heidelberg. Man ist in einem fremden Land auf sich alleine gestellt, ist mit einer Sprache konfrontiert, die meist nicht die eigene ist und muss sich erst einmal durch viel Papierkram kämpfen. Zwar werde nach Ankunft einiges getan, um den Studierenden den Start mithilfe Orientierungen, Exkursionsprogrammen und Partys so einfach wie möglich zu machen, doch würden die Studierenden dadurch erst mal wenig Anschluss zu Ortsansässigen ihres Alters bekommen. „Es ist ein schmaler Grat: Auf der einen Seite haben neuankommende Studierende besondere Bedürfnisse und brauchen zusätzliche Betreuung und auf der anderen Seite kann diese für die Integration auch kontraproduktiv wirken“, erklärt Nicoline Dorn, Abteilungsleiterin für Auslandsstudium, Austauschprogramme und Internationale Hochschulbeziehungen.
Was für Studierende im eigenen Land schon schwer genug sein kann, ist für Erasmus-Studierende von außerhalb noch härter: Die Wohnungssuche. Carmen Schmid, Inhaberin des Hostels Lotte in der Altstadt erfährt das zu jedem Semesterbeginn hautnah, wenn viele Studierende zu Dauergästen werden. Mittlerweile liegen sogar vorbereitete Ausdrucke im Hostel, weil so viele Studierende bei ihr nach Hilfe bei der Zimmersuche fragen. „ Es ist insgesamt schwer für Studierende eine Bleibe zu finden und für Erasmus-Studierende ist es natürlich noch schwerer, weil sie ja nicht einfach wieder nach Hause können.“ Weil Heidelberg eine relative kleine Stadt ist, wolle auch niemand wirklich außerhalb des Zentrums wohnen. „In einer Stadt wie Heidelberg gibt es, was die Infrastruktur betrifft, Grenzen“, erklärt Dorn. Vor allem im Wintersemester könne die Wohnungssuche zu großen Problemen führen, weil man mit den ganzen Studienanfängern konkurriere. Deshalb sei die Zahl der Erasmus-Studierenden im letzten Semester nach Heidelberg kamen mit 550 Personen auch geringer als die der 653 sogenannten Outgoers. Es gäbe einfach nicht genug Platz. Ein weiteres Problem sei, so Dorn, dass Erasmus-Studierende bei der Wohnungssuche immer wieder Opfer von Betrug werden würden und das schon vorbezahlte Zimmer manchmal gar nicht existiere.
Ein Phänomen, das vielen Erasmus-Studierenden bekannt sein wird, ist die sogenannte ‚Erasmus-Blase‘. Während es für einen selbst eine temporär begrenzte Ausnahmesituation ist und man in einem anderen Land so viel wie möglich mitnehmen möchte, leben die Studierenden an der Gastuniversität ihr geregeltes Leben und haben oft keine Zeit oder Lust, näher mit Gaststudierenden in den Kontakt zu treten. „Die Leute dort haben Verpflichtungen, die eine Person, die mit Erasmus in einem fremden Land ist, nicht hat“, erzählt eine Heidelberger Studentin. Es sei oftmals schwierig, ortsansässige Studierende kennenzulernen, man gehöre schlichtweg nicht dazu. Es hänge deshalb alleine von einem selbst ab, Leute kennenzulernen: „Wenn man niemanden kennenlernen will, wird man das auch nicht.“, betont sie. Soziale Medien seien darüber hinaus oftmals eine Hürde der Integration. Alexandra Braye, Erasmus-Hochschulkoordination der Universität Heidelberg hält das für ein Generationsphänomen: „Zu meiner Zeit, als man ins Ausland gegangen ist, da waren wir weg. Da hat man vielleicht einmal die Woche mit so einer Prepaidkarte zuhause angerufen und eine Minute mit der Familie gesprochen. Heutzutage ist es schwierig, weil viele virtuell gar nicht wirklich weg sind und das macht es schwer, andere Leute kennenzulernen.“ Auch die Partnerunis sind nicht immer kooperativ. „In der Universität Lissabon wurden wir Erasmus-Studierenden in den Kursen eher ungerne gesehen“, erzählt die Heidelberger Studierende Raquel, die für ein Jahr in Portugal war. Das Learning Agreement, in welchem man vor dem Aufenthalt die Lernziele über 30 ECTS Punkte festlegt und das, was einem später wirklich angerechnet wird, sind zwei Paar Stiefel. „Man wird in ‚Erasmus-Kurse‘ gesteckt, kann unter anderem wegen der Ablehnung der Dozenten nicht so viele Credits machen, wie zuvor gedacht und manchmal wird man mit einem ‚No Erasmus, please‘ wieder aus den Kursen geworfen.“ Manchmal würde auch schlichtweg nicht alles angeboten werden, was man ursprünglich vorhatte.
Auch die Finanzierung des Aufenthalts kann zu Problemen führen. Denn ein großer Vorteil an Erasmus ist, dass man die Studiengebühren der Partner-Uni meist nicht bezahlen muss und obendrauf noch einen Zuschuss bekommt. Vor allem Studierende, die in relative teure Städte wie London oder Paris oder Länder wie Schweden und Norwegen gehen, ständen oft vor finanziellen Problemen, weil sie die Lebensunterhaltungskosten unterschätzen. „Deshalb gehört eine Finanzplanung unbedingt zur Vorbereitung dazu!“, bekräftigt Braye.
Ist man nach seinem Auslandsaufenthalt wieder Zuhause, gehen viele Studierende durch eine Art Erasmus-Depression. „Die ist Heidelberg sicherlich sehr präsent, weil viele dann im Oktober wieder zurückkommen, wo das Wetter entsprechend den Rest tut.“, meint Braye. Man wird mit Zukunftsfragen konfrontiert, die man im Ausland ausblenden konnte, hat sich selbst verändert und trifft auf ein Umfeld, in dem alles so ist wie vorher.
Grundsätzlich ist ein Erasmus-Aufenthalt ein durch und durch individuelles Erlebnis, das jeder Studierende anders erlebt. Deshalb kann man Probleme und Schwierigkeiten überhaupt nicht verallgemeinern . Dennoch ist es von Vorteil vor seiner Erasmus-Reise mal kurz die rosarote Brille abzusetzen und sich die möglichen unschöneren Seiten des Erasmus-Traums vor Augen zu führen. Nicht alles wird glatt laufen. Nicht jeder wird die Zeit seines Lebens haben. Eine Erfahrung fürs Leben wird es aber auf jeden Fall sein. Frau Dorn bringt das Ganze auf den Punkt: „Es ist einfach anders woanders. Deswegen geht man ja hin.“
Von Julia Edelmann