Als Fahrgast erlebt man den Bahnhof meist als Durchgangsstation. Für manche ist er jedoch viel mehr. Unsere Autorin begibt sich auf Spurensuche.
[dropcap]S[/dropcap]chon wieder spät dran. Schnaufend renne ich über eine rote Ampel auf den Heidelberger Hauptbahnhof zu. Mein einziges Ziel: meinen Zug nach Hause erwischen. Auf dem Bahnhofsvorplatz weiche ich nicht nur den abgestellten Fahrrädern, sondern auch vielen anderen Menschen aus, die genau wie ich gehetzt zum Zug unterwegs sind. Ungeduldig warte ich darauf, dass nach einer gefühlten Ewigkeit einer der Fahrkartenautomaten frei wird. Ich laufe zum Bahnsteig und bekomme gerade noch meinen Zug. Den Bahnhof habe ich nicht wahrgenommen. Warum auch, ist ja nur ein Bahnhof. Für mich ist er wie für die 50 000 anderen Fahrgäste täglich nur eine Durchgangsstation – ein Ort, den man schnell wieder verlassen möchte.
Doch für manche Menschen ist er mehr als das: ein Arbeitsplatz, ein Ort, an dem man sich engagiert oder aber sich tatsächlich gern aufhält. „Für viele ist der Bahnhof ein Zuhause“, erzählt Christina Heine. Die 18-jährige Schülerin ist eine von etwa 25 Ehrenamtlichen, die bei der Bahnhofsmission in Heidelberg arbeiten. Als ich mich mit ihr in den Räumen der Bahnhofsmission gleich neben den Schließfächern treffe, merke ich wenig von der Hektik der Reisenden, die auch mich oft ergreift. An einfachen Tischen sitzen Menschen zusammen. Es stehen kleine Töpfe mit Blumen auf bunten Servietten. Mitarbeiter schenken Kaffee aus. Während ich dort sitze, höre ich immer wieder kleine Gesprächsfetzen. Mal geht es um den Kaffee, mal um das, was in den letzten Tagen los war. Es herrscht ein geschäftiges Treiben, das mich eher an ein Café in der Stadt erinnert als an den Reisestress, der sich nur wenige Meter weiter abspielt.
Wir haben hier immer eine offene Türe, das ist uns sehr wichtig“, erklärt Miriam Hotel, Leiterin der Bahnhofsmission in Heidelberg. Bei ihrer Arbeit gäbe es keine spezielle Zielgruppe. „Unser Angebot richtet sich nicht nur an Reisende oder Obdachlose, sondern an alle Menschen, die am Bahnhof Hilfe brauchen.“ So vielfältig wie die Zielgruppe ist dann auch das Hilfsangebot der Sozialambulanz. Die Mitarbeiter leisten Hilfe beim Umsteigen der Züge, bieten einen Schutzraum am Bahnhof und sprechen auch ganz aktiv bei ihren Rundgängen Personen an, die hilfsbedürftig erscheinen. Jenseits der sogenannten Reisehilfe unterstützt die Bahnhofsmission auch bei Kinderübergaben. Wenn die Situation zwischen getrennten Elternteilen so schwierig ist, dass die beiden Parteien ihre Kinder für Wochenenden nicht ohne Konflikt übergeben können, bietet die Bahnhofsmission den Schutzraum für sie und die Kinder. Die Mitarbeiter wirken dabei als neutrale Puffer, um allen einen reibungslosen Übergang zu ermöglichen. Damit wird der ruhige Raum auch für die Kinder und Eltern zur Durchgangsstation, ähnlich und doch anders als der Bahnhof für die Pendler und Reisenden. Darüber hinaus gibt es in der Bahnhofsmission eine Liege für medizinische Notfälle. Bei der Vielfalt des Angebots wundert es mich nicht, als Chris-tina mir erzählt, dass keine Schicht wie die andere ist. Immer wieder hat sie dort Begegnungen mit ganz verschiedenen Menschen. Manche sieht sie nie wieder, andere trifft sie jenseits des Bahnhofs in der Heidelberger Innenstadt erneut. Man kennt sich vom Bahnhof und grüßt sich schon mal. So schafft der Ort, den ich oft als Mittel zum Zweck wahrnehme, auch Verbindungen zwischen Menschen.
Wenig verwunderlich ist, dass ausgerechnet eine Reise auch Christina zu ihrer Arbeit am Bahnhof gebracht hat. „Ich hatte schon lang im Kopf, dass ich mich engagieren möchte. Dabei habe ich immer wieder an die Bahnhofsmission gedacht“, erklärt sie. Eines Tages hatte sie ein bisschen Zeit, bevor sie zum Zug musste. „Da bin ich einfach hin gegangen und habe gefragt, ob ich dort helfen kann.“ Mittlerweile arbeitet sie seit einem halben Jahr in der Mission. Viele der Ehrenamtlichen bleiben auch länger, manche kommen nur einmal im Monat, manche häufiger. Leiterin Hotel freut sich darüber, dass es so viele unterschiedliche Typen von Ehrenamtlichen in der Sozialambulanz gibt. „Die Menschen profitieren von der Vielfalt unter unseren Ehrenamtlichen, denn jeder und jede bringt seine eigene Weltsicht mit rein“, erklärt sie. So sehe ich neben der jungen Schülerin auch ältere Damen dort im Gespräch mit den Besucherinnen und Besuchern. Finanziert wird die Sozialambulanz von der evangelischen Stadtmission und dem Caritasverband in Heidelberg. Die Räume der Bahn können sie kostenlos nutzen.
Und die Räume, die ich bisher nie wahrgenommen habe, liegen sie doch etwas ab vom Bahnhofstrubel, werden gut frequentiert. „Viele Menschen kommen immer wieder, manchmal mehrfach die Woche oder mehrfach am Tag“, erzählt Hotel. Sie bekommen für 10 beziehungsweise 20 Cent einen Kaffee und ein Gesprächsangebot. „Wir möchten, dass die Menschen, die zu uns kommen, mit uns und miteinander in Kontakt kommen“, sagt Hotel. „Wir erleben viele Leute, die sehr einsam sind. Für ein kleines Gespräch kommen sie dann zu uns.“ Für Christina ist das ein wesentlicher Punkt ihrer Arbeit „Was ich hier gelernt habe, ist, meine Hemmungen zu überwinden und auch Kontakt zu Menschen zu finden, die ich sonst nie kennenlernen würde, weil ich in einer ganz anderen Welt lebe“, erzählt die 18-Jährige. Während ich, wenn ich durch den Bahnhof renne, höchstens einmal Menschen den Weg erkläre, spüre ich, während in ich der Bahnhofsmission sitze, dass sich die Mitarbeiter und Besucher dort Zeit für ein Gespräch und ihr Gegenüber nehmen.
Christinas Blick auf Bahnhöfe hat das verändert. „Ich verbinde mit dem Bahnhof die Bahnhofsmission. Auf die Arbeit hier bin ich stolz und fühle mich hier wohl“, erzählt sie. Jenseits ihrer Arbeit nutze sie den Bahnhof aber wie alle anderen auch, um von A nach B zu kommen.
Als ich nach unserem Gespräch an den Schließfächern und Rossmann vorbei laufe und wieder zu den Gleisen gehe, um nach Mannheim zu fahren, achte ich genauer auf die Menschen um mich herum. Eine Mitarbeiterin der Bahn fällt mir ins Auge. Sie sitzt auf einer der Bänke am Bahnsteig und raucht. Sie scheint eine Pause von ihrer Arbeit zu machen und dabei kurz die Ruhe an dem fast leeren Bahnsteig zu genießen.
Für die Mitarbeiter ist der Bahnhof alles andere als eine Durchgangsstation“, erklärt Ahmet Pehlivan, Bahnhofsmanager in Mannheim, der auch für Heidelberg zuständig ist. „Sie verbringen am Bahnhof sehr viel Zeit, auch an Wochenenden und Feiertagen.“ Logisch, wäre doch der Betrieb nicht möglich ohne das Personal an den Infoständen, die ich als Fahrgast oft genauso wenig wahrnehme wie andere Dinge am Bahnhof. Auch für sie scheint der Ort ein wenig ein Zuhause zu ein.
So ist ihre Sicht auf die Halle und die Bahnsteige eine andere als die des durchschnittlichen Bahnhofsbesuchers. „Von hinterlassenen Koffern bis hin zu umgekippten Kaffeebechern, alles wird beobachtet und wahrgenommen und bei Bedarf eingegriffen“, erzählt Pehlivan. „Als Mitarbeiter der Bahn verändert sich der Blick auf den Bahnhof. Man beachtet Dinge, die ein normaler Fahrgast nicht immer wahrnimmt.“ Dazu gehören auch die Angestellten der zahlreichen Läden im Hauptbahnhof. Während ich mit den Verkäuferinnen beim Bäcker auf dem Weg zum Zug oft nicht mehr als zehn Worte wechsle – nebenher immer den Blick auf die Uhr geheftet – entstehen zwischen dem Bahn-Personal und den Angestellten der Einzelhändler oft Bekanntschaften. „Wir sind schließlich auch ihre Kunden“, meint Pehlivan. „Dauerkunden sozusagen.“
Während es diese Stammkunden durchaus auch im Zapata, einem der Restaurants am Bahnhof, gibt, müssen die meisten schnell weiter. „80 Prozent der Gäste machen Stress“, erzählt Josh, einer der Kellner im Zapata. „Die wollen, dass alles ganz schnell geht und haben oft kein Verständnis für uns.“ Seine Arbeit dort gefällt ihm trotz manchem Ärger über die Gäste gut. So geht es auch seiner Kollegin Elena, die während unseres Gesprächs immer wieder zwischen Theke und Gästen hin und her läuft, während Josh den Kaffee macht. Beide arbeiten dort schon seit einem Jahr. Es ist Nachmittag und der Laden ist bis auf wenige Gäste leer. Grundsätzlich könne man schwer sagen, wann die Leute kommen, erklären mir die beiden. Das sei eine Eigenheit des Bahnhofs. Nur Sonntagmorgen sei auf jeden Fall immer etwas los. Alles andere ist nicht vorhersagbar.
Auch Kalinda Yasemin, Filialleiterin bei Blumenfee, kennt die unberechenbaren Stoßzeiten. „Es gibt immer viel zu tun“, sagt sie. Besonders viel Arbeit habe sie an Feiertagen wie Muttertag oder Valentinstag, wenn viele quasi im Vorbeigehen noch einen Strauß für ihre Lieben kaufen wollen. Die Floristin arbeitet seit fünf Jahren am Bahnhof und hat in dieser Zeit vor allem eines gelernt: schnell sein. „Der Zeitdruck ist sehr hoch“, erklärt sie. „Viele der Kunden wollen, dass wir in drei Minuten fertig sind mit dem Binden der Sträuße.“ Trotzdem nimmt sie sich, genau wie alle Gesprächspartner, die ich am Bahnhof gefunden habe, Zeit, mir von ihrer Arbeit zu erzählen.
Als ich das nächste Mal zum Zug muss, um für ein Wochenende dem Unistress zu entkommen, bin ich wie üblich spät dran. Aber als ich durch den Bahnhof laufe, sehe ich ein paar für mich nun bekannte Gesichter und muss lächeln. Ein Zuhause wird der Bahnhof wohl nie für mich werden. Nach der Zeit und den Begegnungen mit den Menschen dort ist er aber mehr geworden als nur eine Durchgangsstation.
Von Esther Lehnardt