Askold Kurvov, Regisseur aus Moskau, zeigte zum Start der Fußball-WM seinen Film „The Trial“ im Gloria in Heidelberg. Im Zentrum der Dokumentation steht der Fall von Oleg Sentsov, einem ukrainischen Filmemacher, der nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 verhaftet und zu zwanzig Jahren Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis in Sibirien verurteilt wurde. Der Regisseur und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International bezweifeln die Rechtmäßigkeit des Verfahrens und des Urteils. Vor der Filmvorführung traf sich Kurov mit dem ruprecht zu einem Gespräch.
Das Interview wurde auf Englisch geführt, im Folgenden eine übersetzte Version.
Ihre Filme befassen sich meist mit sozialen und politischen Themen im heutigen Russland. Warum haben Sie sich entschieden, einen Film über den Fall von Oleg Sentsov zu machen?
Wissen Sie, es gab mehr als einen Grund. Ich traf Oleg Sentsov drei Jahre bevor er verhaftet wurde, bevor alle Ereignisse geschahen, vor der Annexion. Eines Tages schrieb er mir auf Facebook: „Hi Askold, ich bin Oleg, ich bin Regisseur, wie du“. Wir waren beide noch Anfänger – Oleg hatte grade seinen ersten Spielfilm gedreht und ich hatte meine erste Kurzdokumentation beendet. Er hatte mich einfach im Internet gesehen und fand mich über Facebook. Als Oleg dann verhaftet wurde, ging ich nach Moskau zu den ersten Verhandlungen um ihn zu sehen und damit er mich sieht. Um ihm irgendwie Unterstützung zu geben. Mir war das Rechtssystem in Russland zuvor nicht vertraut. Als ich ankam, war ich absolut geschockt über die Anschuldigungen an Oleg zu erfahren. In dieser Situation habe ich mich komplett hilflos gefühlt, weil ich einfach nichts tun konnte um einem Freund zu helfen. Als ich das realisierte, entschied ich mich die Dokumentation zu drehen um so zumindest Menschen über diesen Fall zu informieren. Wissen Sie, das ist kein privater Fall, es ist Teil eines größeren Bildes der Situation in Russland heutzutage.
Waren Sie bei den Gerichtsverhandlungen anwesend? Auch bevor es in den Medien thematisiert wurde?
Ich bin zu fast allen Verhandlungen gegangen. Diese Situation zog sich beinahe über ein und ein halbes Jahr hin. Ich durfte Teile davon filmen, ich durfte dort sein. Ich konnte nicht alles filmen, aber während der Hauptverhandlung wollten sie zeigen, dass sie freundlich sind: Fast allen russischen und ausländischen Journalisten wurde es gestattet an der Verhandlung teilzunehmen. Auch wenn man den Gerichtssaal nicht immer betreten konnte, gab es die Möglichkeiten einen großen Monitor in der Lobby zu filmen, wo der Prozess übertragen wurde.
Seit dem 14. Mai ist Sentsov im Hungerstreik. Wissen Sie wie sein Zustand derzeit ist?
Ich besuchte Oleg vor einer Woche, letzten Montag. Überraschenderweise durfte ich ihn treffen. Wissen Sie, das Gefängnis liegt im Polarkreis, es liegt immernoch Schnee und Eis auf dem Fluss. Man kann die kleine Stadt nur mit dem Helikopter ereichen, das Klima dort ist sehr hart. Es war der zweiundzwanzigste Tag von Olegs Hungerstreik, er war mehr oder weniger normal. Er bekommt unterstützende Therapie, das bedeutet er hat kein Essen, nur Wasser, aber er bekommt Medizin- und Glukoseinfusionen und ein paar Vitamine. Aber er möchte bis zum Ende gehen. Die einzige Bedingung, unter der er seinen Hungerstreik abbrechen wird, ist die Freilassung aller politischen Gefangenen in Russland. Leider ist er eine Person, die immer bis zum Äußersten geht. Er hat sich auf den Tod vorbereitet, wenn sie seinen Forderungen nicht nachgeben.
Oleg wurde in Semferopol, der Partnerstadt Heidelbergs in der Ukraine, geboren, das heißt er ist ukranischer Staatsbürger. Was ich nicht verstanden habe – wie konnte ein russisches Gericht ihn verurteilen? Gibt es da irgendeine rechtliche Grundlage?
Das ist eine sehr interessante Frage. Wissen Sie, nach der Annexion gab es eine Gesetzgebung, für die früheren ukrainischen Staatsbürgern der Krim, die die russische Staatsbürgerschaft bekommen sollten. Und wenn man das nicht wollte, musste man Anspruch auf eine bestimmte Erklärung erheben und bestimmte Papiere unterzeichnen. Diejenigen, die das nicht machten, wurden automatisch russische Staatsbürger. Oleg Sentsov hat auf die urkrainische Staatsbürgerschaft nie verzichtet, er hat nie irgendwelche Papiere unterzeichnet und er hat nie einen russischen Ausweis erhalten. Trotzdem haben ihn russische Autoritäten als russischen Bürger betrachtet, gegen seinen Willen. Die Situation ist absolut absurd. Oleg hat oft dagegen protestiert. Das ist auch der Grund, warum bisher ein Gefangenenaustausch [mit der Ukraine] verweigert wurde: Sie sagten, wir können keine russischen Bürger gegen russische Bürger tauschen. Ukrainischen Beamten wird nicht erlaubt, das Gefängnis zu betreten, weil sie sagen, dass Oleg kein Ukrainier ist.
In der Gerichtsverhandlung wurde Oleg angeklagt, Teil des Rechten Sektors zu sein. Sie sind überzeugt, dass das Urteil fingiert und politisch motiviert ist – warum? Beziehungsweise warum wurde gerade diese Anschuldigung genutzt?
Es funktionierte sehr gut für die russische Propanganda. Die neue Propaganda. Sie wollten die Annexion der Krim und der östlichen Ukraine rechtfertigen, vor allem gegenüber den Russen in Russland. Es gab also die Erklärung, dass es neue ukrainische Faschisten gebe, die russischsprachige Menschen hassen und töten wollen. Das ist warum wir unsere russischsprachigen Bürger in der Ukraine und der Krim beschützen müssten. Der Fall der sogenannten Krimterroristen wurde zum Propagandawerkzeug. Weil Russland einfach sagen konnte: Seht, wir beschützen nur unsere Leute vor diesen Terroristen, die alles und jeden in die Luft sprengen wollen.
Die Anklage Oleg sei ein ukrainischer Faschist ist so absurd, seine Muttersprache ist Russisch, er spricht gar nicht Ukrainisch. Und ein anderer Angeklagter, Oleksandr Koltschenko, ist Antifaschist, das ist sogar noch absurder.
Ich war Zeuge als die Anwälte nach einer Bestätigung seitens des Rechten Sektos fragten, ob Sentsov und Koltschenko je Mitglieder darin waren. Der Rechtsanwalt hatte die offizielle Bestätigung dass keiner der beiden dem Rechten Sektor je beigetreten waren. Aber der Richter weigerte sich diese Bestätigung zu akzeptieren und als Beweis zu nutzen, weil die Organisation in Russland verboten ist (lacht). Viele viele solche Dinge passierten in dem Fall.
Zum Beispiel war unter den Beweisen, die zeigen sollten, dass Oleg Sentsov ein Faschist sei, eine Kopie eines alten Filmes „Ordinary Faschism“. Das ist eine Doku aus dem Jahr 1965, einer der berühmsten antifaschistischen Filme von Michail Illjitsch Romm, doch sie nutzen es als Beweis für Olegs angeblichen Faschismus
„The Trial“, den Film, den Sie heute Abend in Heidelberg zeigen, fällt zeitlich mit dem Beginn der Fußballweltmeisterschaft zusammen. Welche Reaktionen hoffen Sie dadurch zu bekommen? Ich vermute, um mehr Aufmerkamkeit auf Russland zu lenken..
Ja, wir werden den Film das ganze Jahr auf verschiedenen Festivals zeigen, in verschiedenen Städten und Ländern. Manchmal im Rahmen von solchen Veranstaltungen, manchmal als Vorführung mit Hilfe von Organisationen wie Amnesty International, an Universitäten; weltweit. Derzeit, wegen der WM und dem G7 Gipfel und anderen politischen Ereignissen, hoffen wir, so viel Aufmerksamkeit wie möglich auf den Fall von Oleg Sentsov zu lenken. Er versteht das auch so, das ist der Grund wieso er jetzt, heute seit einem Monat, mit dem Hungerstreik begann. Vielleicht ist das seine letzte Hoffnung die Situation zu nutzen. Er macht das nicht für sich selbst, sondern für alle ukrainischen politischen Gefangenen in Russland.
Er nutzt also ein Sportereignis als politische Bühne. Wie könnte die internationale Reaktion ausfallen? Wäre beispielsweise ein Boykott ein effektives politisches Signal?
Ja natürlich, ein Boykott oder ähnliches wäre gut. Denn Oleg Sentsovs Schicksal hängt von einer einzigen Person ab, Wladimir Putin. Er ist wie eine persönliche Geisel. Ich glaube, dass Putin Sentsov für den höchsten Preis verkaufen möchte und ich weiß nicht, warum. Vielleicht für ein besseres Image Russlands. Wenn er verstehen würde, dass er vielleicht riskiert, keine VIP Gäste zu haben in der Eröffnungszeremonie wenn er die politischen Gefangenen nicht freilässt, wäre das gut.
Mit Ihren Filmen, sehen Sie sich als politischen Aktivisten oder geht es mehr darum Solidariät mit einem anderen Regisseur zu zeigen?
Für mich geht es mehr um Solidarität. Das ist nicht neu in der Filmwelt, manchmal versuchen wir illegalen Gefangenen zu helfen. Zum Beispiel iranische Regisseure – also ist es wirklich nicht so unerwartet wenn ich als Regisseur für einen Gefangenen in Russland kämpfe. Dank der Europäischen Film Akademie, die Oleg Sentsov seit den Anfängen unterstützte, war „The Trial“ bei der letzten Berlinale der Eröffnungsfilm. Trotzdem haben wir seit vier Jahren keine Ergebnisse gesehen. Jedes Mal, wenn wir Petitionen unterschreiben und Briefe senden, an Putin und russische Autoritäten, änderte sich trotzdem nichts.
Wie war es, den Film zu drehen? War es schwierig Material zu finden oder Leute zu finden, die darüber sprechen wollen?
Nein es war nicht schwer, Material zu finden, beinahe niemand weigerte sich an dem Film mitzuarbeiten und viele Menschen kamen auf mich zu, um daran teilzunehmen, einfach aus Solidarität. Wie gesagt hatte ich Zugang zu der Verhandlung, ich bekam Material von Olegs Anwalt, der von Anfang an einer Kooperation zustimmte. Seine Verwandten stimmten zu, in dem Film zu sein. Die einzige Schwierigkeit war die Situation selbst. Olegs Sentsovs Cousin und auch sein Anwalt wurden die ganze Zeit durch den Geheimdienst überwacht, beispielsweise. Ich denke auch, dass unsere Handys angezapft wurden, manchmal wenn wir uns in einem Café trafen bemerkten wir einen Mann neben uns, der uns beobachtete, manchmal wurden Fotos von uns auf der Straße aufgenommen. Das war sehr unangenehm, weil ich für das ganze Material, das ich gesammelt hatte, verantwortlich war. Manchmal erzählte mir jemand etwas, das nicht an die Öffentlichkeit kommen sollte.
Es gab also Situationen, in denen Sie sich unsicher gefühlt haben wegen des Films?
Nein, das kann ich so nicht sagen. Ich werde oft gefragt, warum ich den Film überhaupt machen durfte. Die Antwort ist sehr einfach: Es ist ein Schauprozess. Russland möchte, dass dieser gesehen wird.
Das heißt, Sie können den Film auch ohne Probleme in Russland zeigen?
Es gab Hindernisse. Alle Festivals weigerten sich, den Film in ihr Programm aufzunehmen. Bis auf ein unabhängiges Dokumentarfilm-Festival letzten Dezember. „The Trial“ war dort der Eröffnungsfilm. Es war völlig ausverkauft, manche versuchten trotzdem reinzukommen. Denn dieser Fall ist sehr wichtig in Russland. Die Leute wollen darüber Bescheid wissen. Jetzt, nachdem Oleg seinen Hungerstreik angekündigt hatte, gab es in Russland und weltweit viele Aktionen. Das ist sehr gut, denn die Leute haben weniger Angst als die russischen Autoritäten es gerne hätten.
Haben Sie mit ihrer Kunst Erfahrungen mit Zensur gemacht? Oder andere Filmemacher, die Sie kennen?
Sehr interessante Frage. Wie gesagt, weigerten sich fast alle Festivals den Film zu zeigen. Die Situation ist wirklich seltsam, „The Trial“ war in der Berlinale, einer der größten Filmfestivals der Welt. Das wäre eigentlich ein großes Ereignis für das russische Kino, wenn ein russischer Film es auf die Berlinale schafft, ist es vielleicht nicht in den Nachrichten an erster Stelle, aber doch sehr wichtig. Alle, die ganzen Medien reden darüber. Aber niemand erwähnte „The Trial“, ich meine im Staatsfernsehen, in staatlichen Medien. Ein Freund von mir, der bei einem TV-Sender arbeitet, sagte mir, dass es verboten wurde, den Film zu erwähnen. Einzig die unabhängigen Medien berichteten darüber. Natürlich können wir den Film nicht im Fernsehen zeigen.
Davor habe ich einen Film über LGBT-Teenager in Russland gedreht, dabei war die Situation ähnlich.
Das heißt, Russland kann solche Filme nicht per se verbieten, aber es gibt andere Werkzeuge. Zum Beispiel brauche ich, um meine Arbeiten im Kino zu zeigen eine Erlaubnis des Kulturministeriums, so wie eine Lizenz. Egal, ob es sich um eine kommerzielle Vorführung handelt oder im Kino oder ob ich es meinen Freunden in einer Bar oder einem Café zeigen möchte – immer wenn es in irgendeiner Form öffentlich ist.
Es gibt viele Filme, die diese Lizenz nicht erhalten haben, alle handeln von politischen Themen und Situationen in Russland oder der Ukraine. So funktioniert die Zensur.
„Children 404“, über LGBT-Teenager konnten wir in Russland nur vier Mal zeigen. Das letzte Festival wollte den Film in sein Programm aufnehmen, aber sie hatten Angst, Probleme zu bekommen. Deshalb gingen sie einen anderen Weg: die Veranstalter liehen viele Laptops und gaben diese mit einem USB-Stick an die Besucher. So saß jeder in der Vorführung mit seinem Laptop, somit war es keine öffentliche Vorführung mehr, sondern privat.
Wie könnte sinnvolle Unterstützung in Oleg Sentsovs Fall und ähnlichen aussehen? Auch vielleicht als Studierender in Deutschland?
Man kann Informationen über Oleg Sentsov und andere politische Gefangene im Internet finden. Ich weiß nicht wie es funktioniert, auch die Solidarität von Filmemachern aus ganz Europa hat nicht geholfen Oleg zu befreien. Trotzdem können wir nicht aufgeben. Niemand weiß, was wann etwas bewirkt, deshalb sollten wir alle Möglichkeiten nutzen, um Menschen über Oleg Sentsovs Fall und die Situation auf der Krim zu informieren.
Gibt es derzeit noch ein Thema in Russland, welches Ihnen besonders wichtig ist und das mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte?
Ich kann nicht ein einzelnes Thema herausnehmen. Jedes Mal wenn ich merke, dass mir ein Thema besonders wichtig ist und ich ein paar Antworten finden möchte, fange ich an eine Dokumentation zu drehen. Zum Beispiel LGBT-Jugendliche, Oleg Sentsvos Fall; mein neues Projekt befasst sich mit einer der letzten unabhängigen Zeitungen in Russland: Nowaja Gaseta. Diese Leute waren extrem mutig und haben vor nichts Angst. Doch seit 2000 haben sie sechs Leute verloren, sie wurden umgebracht. Darüber gab es keine Investigationen.
Diese Thematik begann mich während Sentsovs Verhandlung zu interessieren. Vor allem nach seinen letzten Worten [vor Antritt der Haftstrafe], die Oleg mit der Aussage beendet: „Strebt danach, keine Angst zu haben.“
Das Gespräch führte Nele Bianga