Argentinischer Kongress stimmt für Gesetzesentwurf zur Legalisierung von Abtreibungen
In der Nacht zum 14. Juni saßen tausende Argentinier gebannt vor dem Computer. Sie verfolgten online eine Live-Debatte zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Der im Kongress diskutierte Gesetzesentwurf sieht unter anderem Straffreiheit für Abtreibungen bis zur 14. Schwangerschaftswoche vor. Die 22 Stunden andauernde Sitzung war gleich in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: Nicht nur waren alle Abgeordneten anwesend, auch war der Fraktionszwang aufgehoben und die gewählten Vertreter und Vertreterinnen konnten nach eigenem Gewissen entscheiden. So verliefen die Trennlinien von Ablehnung und Zustimmung quer durch Opposition und Regierung. Mit knapper Mehrheit konnten sich die Befürworter schließlich behaupten.
Bisher erlaubt das argentinische Gesetz Abtreibungen nur in Fällen von Vergewaltigung oder Lebensgefahr für die Frau. Laut einer 2005 durchgeführten Studie, der einzigen ihrer Art, wird jährlich aber trotzdem in circa 450 000 Fällen heimlich abgetrieben. Komplikationen bei der Durchführung führten dabei allein 2016 zu 10 000 stationären Behandlungen und 44 Todesfällen. Die Legalisierung ist deshalb eine zentrale Forderung der argentinischen Frauenrechtsbewegung, die in den letzten Jahren immer mehr Menschen hinter sich vereint. Das führende Protestbündnis „Campaña Nacional por el Derecho al Aborto Legal Seguro y Gratuito“ setzt sich schon seit 2005 für die Entkriminalisierung und gesetzliche Legalisierung ein und rief immer wieder zu Demonstrationen in den verschiedenen Provinzen des Landes auf. Der Protest wird dabei vor allem von der jungen, akademischen Schicht der größeren Städte getragen. In den letzten Monaten kam es daraufhin zu einem intensiven gesellschaftlichen Diskurs, wodurch sich die Abgeordnetenkammer schließlich zur Auseinandersetzung mit dem Thema gezwungen sah. Vor allem die „Pro Vida“-Bewegung und die katholische Kirche stellen sich quer. Sie argumentieren mit dem Recht auf Leben ab dem Moment der Zeugung und deklarieren Abtreibung als Mord. Dem setzen die Frauenrechtler die empirische Realität der hohen Frauensterblichkeit entgegen. Der Leitspruch der Legalisierungsbewegung lautet daran angelehnt: „Sexualerziehung, um zu entscheiden, Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben, legale Abtreibung, um nicht zu sterben“.
Das restriktive Abtreibungsgesetz bettet sich in einen tief in der katholisch geprägten Gesellschaft verwurzelten „machismo“ ein: die Überzeugung des Mannes, das dominierende Geschlecht zu sein. Die letzten Großdemonstrationen vor der historischen Abstimmung wurden medial auch immer wieder als „grüne Flut“ bezeichnet. Das Symbol ist inspiriert von den „Madres de Plaza de Mayo“. Diese Gruppe von Müttern kämpfte in der Militärdiktatur gegen die systematische Festnahme und Tötung von Systemkritikern und trug dabei ein charakteristisches weißes Kopftuch. Die Bewegung geht gestärkt aus den vergangenen Monaten hervor, denn das Thema Frauenrechte ist im öffentlichen Diskurs sehr viel präsenter als noch zuvor. Der Senat entscheidet nun Anfang August darüber, ob Argentinien Geschichte schreibt und nach Uruguay als zweites lateinamerikanisches Land die Abtreibung gesetzlich entkriminalisiert.
Von Alexandra Koball