Wie ein Urmensch nach Heidelberg benannt wurde und warum er trotzdem kein Vorfahre der heutigen Bewohner der Neckarstadt ist
Am Abend des 21. Oktober 1907 kam der 53-jährige Tagelöhner Daniel Hartmann aufgeregt in den Gasthof „Hochschwender“ im kleinen Ort Mauer südlich von Heidelberg gestürmt. „Heit haw ich de Adam g’funne“, rief er lauthals in die versammelte Runde der Wirtshausgäste. Hartmanns Aufregung rührte daher, dass er am Morgen desselben Tages beim Sandschippen in der Bausandgrube in der Nähe des Dorfes mit seiner Schaufel auf einen Knochen gestoßen war, den er sofort als menschlichen Unterkiefer erkannt hatte. Dass dies für einen Grubenarbeiter möglich war, lag daran, dass der Heidelberger Anthropologe Otto Schoetensack den Männern schon einige Zeit zuvor eingeschärft hatte, auf jeden Knochenfund in der Sandgrube sorgfältigst zu achten. Denn schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts galt der dortige Sand unter Paläontologen als Goldgrube für Fossilien. So hatte bereits 1897 der Schädel eines Waldelefanten aus der Mauerer Sandgrube für Furore gesorgt.
Durch Schoetensack gelangte das beim Auffinden in zwei Teile zerbrochene Fossil schon nach kurzer Zeit in das Zoologische Institut der Universität Heidelberg. Er machte sich auch sofort daran, den sensationellen Fund zu untersuchen und bereits im September 1908 veröffentlichte er die erste Monographie über den Unterkiefer von Mauer. Im Titel dieses Werkes tauchte auch zum ersten Mal der heute bekannte Name „Homo heidelbergensis“ auf. Den neuen Vertreter der Gattung Homo beschrieb Schoetensack bereits damals richtig als „präneandertaloid“, das heißt, er ordnete ihn in die Zeit vor den Neandertalern ein.
Heute weiß man, dass der Unterkiefer ungefähr 600 000 Jahre alt ist und einem Menschen – ob Mann oder Frau ist unbekannt – gehörte, der circa 25 Jahre alt war. Damit ist der Homo heidelbergensis der älteste Überrest eines Urmenschen, der je in Deutschland gefunden wurde. Weitere Vertreter seiner Art wurden an verschiedenen Orten in Europa ausgegraben. Doch genau diese Zuordnung zu einer eigenen Art ist seit langem umstritten. Denn auch wenn Schoetensack, der bereits 1912 starb, es nicht mehr erlebte, wurde sein neu kreierter Artenname schon bald wieder in Zweifel gezogen. In Wirklichkeit, so wurde von anderen Paläoanthropologen argumentiert, sei der Homo heidelbergensis nämlich nichts anderes als ein Vertreter des Homo erectus. Diese Homo-Art hatte vor circa 1,8 Millionen Jahren in einer ersten Auswanderungswelle der Gattung Mensch den afrikanischen Kontinent verlassen und entwickelte sich in Europa – ob mit oder ohne die Zwischenstufe Homo heidelbergensis – zum Neandertaler weiter. Da klare Grenzziehungen in der Paläoanthropologie aber ohnehin schwer sind, ist die Frage, ob der Homo heidelbergensis als eigene Art zu zählen ist, bis heute nicht geklärt. Ein direkter Vorfahre von uns heutigen Menschen war der Homo heidelbergensis jedoch nicht, denn der Homo sapiens wanderte erst vor rund 60 000 Jahren aus Afrika aus.
Faszinierend bleibt der Unterkiefer dennoch. Bis heute ist er das wertvollste Objekt der Sammlung des Geologischen Museums. Seit 2001 gibt es zudem einen Verein, der sich um Bekanntheitsförderung des Homo heidelbergensis bemüht. Im Sommer führt er jeden Sonntag eine Führung in Mauer durch. Und das alles nur dank Daniel Hartmann, der vor hundert Jahren bei der Arbeit einmal besser hingeschaut hatte.
Von Cornelius Goop