Einige Diabetiker leiden an Diabulimie – eine Essstörung, die ihre Krankheit noch gefährlicher macht
Mit 27 Jahren bekam Christian die Diagnose Diabetes Typ-2. Ein Schock für ihn, denn „zu lernen, dass ich Typ-2 habe, war für mich ziemlich verheerend, da ich gerne gegessen und gekocht habe, vor allem Süßigkeiten.“ Er hatte Angst davor, sich an eine so strikte Diät wie seine Mutter halten und ständig seine Blutzuckerwerte kontrollieren zu müssen. Sein Umfeld überraschte die Diagnose nicht, da die Krankheit in der Familie liegt.
Viel unerwarteter war dann die Nachricht, als sich bei ihm Diabetes Typ-1 einstellte. Während bei Typ-2 die Körperzellen zunehmend unempfindlich auf Insulin reagieren, wodurch ein relativer Insulinmangel entsteht, handelt es sich bei Diabetes Typ-1 um eine Autoimmunkrankheit. Bei dieser zerstört das Immunsystem die insulinproduzierenden Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse. Dadurch entsteht ein absoluter Mangel an Insulin. Dessen Aufgabe ist es, die Aufnahme von Glukose in die Zellen zu fördern, damit Energie daraus gewonnen werden kann. Charakteristisch für Typ-1 ist eine schnelle Gewichtsabnahme innerhalb weniger Wochen, weitere Symptome sind Austrocknung und ständiges Durstgefühl. Typische Symptome von Typ-2 sind dagegen Müdigkeit oder Schwäche. Risikofaktoren für Typ-2 sind unter anderem Übergewicht und Bewegungsmangel. Zur Behandlung von Typ-1 müssen Betroffene meist lebenslang Insulin spritzen. Genau das ist aber anstrengend. Weil die Behandlung ihn frustrierte, entschied Christian sich, kein Insulin mehr zu spritzen. „Ein paar Monate später kam der Gewichtsverlust, und ich hielt das für eine gute Konsequenz. In meinem Kopf schienen sich der Gewichtsverlust und die Freiheit von der genauen Überwachung und den regelmäßigen Injektionen zu lohnen“, erzählt Christian.
Mit der Behandlung aufzuhören, um Gewicht zu verlieren, ist allerdings gefährlich – die Krankheit nennt man auch Diabulimie, also Diabetes mit einer Essstörung. Christians Symptome waren die einer unbehandelten Diabeteserkrankung, also häufiges Wasserlassen, Konzentrationsprobleme und Gelenkschmerzen, die Zeichen für besonders hohe Blutzuckerwerte sind. Unbehandelt kann Diabetes tödlich enden. Essstörungen für sich genommen sind bereits schwerwiegende Krankheiten, die die Sterblichkeit erhöhen. Deswegen haben Diabulimiker ein dreifach höheres Risiko, innerhalb von elf Jahren zu sterben, wie die National Eating Disorders Association schreibt.
Diese Gefahr besteht in der sogenannten Ketoazidose, eine starke Übersäuerung des Körpers, die sich zunächst schleichend durch unspezifische Symptome wie Erbrechen oder Schwäche bemerkbar macht. Ketoazidosen entstehen, wenn durch den Insulinmangel keine Glukose aufgenommen werden kann und die Körperzellen sich deswegen Fette und Proteine als Energiequellen zunutze machen müssen. Beim vermehrten Abbau der Fette werden gleichzeitig aber immer mehr Fettsäuren freigesetzt. Aus ihnen entstehen Ketonkörper, die zu einer Ketose führen, einer leichten Übersäuerung des Blutes. Ohne Insulin kann aus der Ketose eine Ketoazidose enstehen, die unbehandelt tödlich endet. Deshalb muss sie unbedingt mit Insulin behandelt werden. Natürlich kommt es nicht in allen Fällen so weit, trotzdem scheint die Vernachlässigung der Insulintherapie eine häufige Angewohnheit von Diabetikern zu sein. Obwohl Christian sich selbst in seiner biowissenschafltlichen Dissertation mit dem Stoffwechsel auseinandersetzte, brach er die Behandlung ab. „Ich begann sogar, meinen Partner und meine Familie und Freunde anzulügen“, erzählt Christian.
Die Erfahrung, dass die Krankheit einen Namen hat, gab Christian die Chance, sich sein Problem einzugestehen. „Es war eine Art Klaps, mich aufzuwecken und wirklich zu erkennen, was ich verlieren könnte, wenn ich es weiterhin tun würde.“ Zu akzeptieren, dass er ein ernsthaftes Problem hat, erlaubte ihm auch, sich seiner Familie und seinen Freunden zu öffnen, und so besser mit seiner Erkrankung umgehen zu können. Christians jetziger Berater für Diabetes-Management hilft ihm, mit der Insulintherapie fortzufahren – und das wohl Wichtigste: Christian nimmt sein Gewicht und seine Krankheit wieder ernst.
Von Eduard Ebert