Imaginäres im Kurpfälzischen Museum
Das Imaginäre in der Kunst? Was soll das, denke ich mir, als ich zum ersten Mal das fette Werbeplakat für die neue Sonderausstellung „Unwirklichkeiten“ des Kurpfälzischen Museums sehe. Schließlich ist es der Sinn der Kunst, nicht nur abzubilden, sondern auch anzuregen. Irgendetwas kann man sich immer dazufantasieren, egal ob Kriegsdarstellung in der Neuen Sachlichkeit oder niederländische Landschaftsmalerei. Eine Ausstellung, die sich dem nicht Dargestellten, dem Empfundenen und Emotionalen eines Kunstwerkes widmet, könnte sich also genauso gut einfach jedem Kunstwerk der Welt widmen. So denkt zumindest mein arrogantes pseudointellektuelles „Kunstkritik ist super einfach“-Ich, das dann aber dennoch beschließt, die Ausstellung wenigstens einmal anzuschauen. Immerhin sind Picasso, Caspar David Friedrich, Kirchner, Goya und all die anderen großen Namen, die dort im Museum hängen, ein guter Grund, sich einmal ganz bildungsbürgerlich zu fühlen.
In der Ausstellung ist dann alles anders. Ich wende mich nach rechts. Ich sehe Lovis Corinths „Walchensee mit Abhang des Jochberges“, eine Landschaftsdarstellung. Die Farben flimmern. Ich glaube, in das Bild hinein greifen zu können. Ich trete einen Schritt vor, ich trete einen Schritt zurück, die Landschaft scheint mich anzuspringen, direkt aus der Bildmitte heraus. Da ist es, das Unwirkliche, das mich auf meinem Gang durch die Ausstellung von der Seite überrascht hat, mit ein paar flimmernden Farben. Nun verstehe ich, noch benebelt, was Corinth meinte, als er in sein Tagebuch schrieb: „Die wahre Kunst ist Unwirklichkeit üben. Das Höchste!“
Während man durch die Ausstellung wandelt, wird klar: Hier geht es um die Kunst, in der das Unwirkliche, die beim Betrachter ausgelösten Emotionen nicht mehr nur schmückendes Beiwerk einer Wirklichkeitsabbildung sind. Die Emotionen werden zum Zweck der Kunst. Und natürlich ist es da sinnvoll, den Anfang des Imaginären in der Romantik zu setzen, die den Mondschein und die Mystik für sich entdeckt hat. Gerade diese Romantik bietet Einladung, den direkten Heidelberg-Bezug herzustellen, die von den Kuratoren der Ausstellung dankbar angenommen wurde.
So bewegt man sich also zwischen Georg August Wallis’ Darstellung des Heidelberger Schlosses und italienischer Landschaften hin und her, zwischen E.T.A.-Hoffmann-Ausgaben und Edvard Munchs Stimmungsskizzen, kann sich vor Ort wiederfinden und in ganz ferne künstlerische Welten reisen. Abwechslung macht den großen Reiz dieser Ausstellung aus: Egal ob thematisch oder zeitlich, sobald man einen Schritt weiter geht wartet ein ganz anderer künstlerischer Ansatz, den es zu entdecken gilt. Wer keine in das Unwirkliche verliebten Expressionisten mag, kommt in der Ausstellung dann eben doch auf seine Kosten. Dafür sorgt eine unglaubliche Vielfalt an hochkarätiger Kunst, die einen Querschnitt durch fast alles, was inhaltlich oder stilistisch möglich ist, bietet. Dass man bei dabei trotzdem nicht in jeder Kunst, die jemals produziert wurde, verloren geht, so wie ich es anfangs befürchtete, liegt vor allem an der zwar sehr dichten, aber konzeptionell ausgewogenen Hängung.
Immer ist ein inhaltlicher roter Faden erkennbar, der insbesondere thematisch Sinn ergibt: Käthe Kollwitz und Ernst Barlach mit ihrer jeweiligen Interpretation eines Todes gegenüberzustellen, sorgt dafür, dass ein Zuschauer sich inhaltlich nicht verirren kann. Wenn, dann verirrt man sich nur in den flimmernden Farben, im Unwirklichen – welches hier, anders als ich zunächst dachte, absolut berechtigt zum Thema einer Ausstellung gemacht wurde.
von Luise Häder