Die Regelungen für Organspenden sind komplex und umstritten. Änderungen sind aufgrund niedriger Spenderzahlen nötig, aber die Debatte steht noch am Anfang
Über den eigenen Tod nachzudenken, das fällt keinem leicht. Irgendwann einmal, ja, wenn ein Testament ansteht oder eine Patientenverfügung. Dinge, die in der Studienzeit noch unendlich weit weg erscheinen. Genau diese Einstellung spiegelt sich wider, wenn es um Organspenden geht: 80 Prozent der Deutschen sind Organspenden gegenüber prinzipiell positiv gestimmt – und doch besitzen nur 25 Prozent einen Ausweis, der zeigt, dass sie nach ihrem Tod auch selbst spenden möchten. Natürlich ist es einfacher, die Entscheidung über den eigenen Körper und darüber, was mit ihm nach dem Tod geschehen soll, aufzuschieben. Warum ist es nun an der Zeit, sie nicht mehr zu ignorieren?
In den letzten Jahren sind die Spenderraten in Deutschland kontinuierlich gesunken: Drei Menschen sterben im Schnitt pro Tag, während sie auf ein Organ warten. Aktuell stehen knapp 10 000 Patienten auf der Warteliste, sie wissen um ihre Chancen und dass es meist Jahre dauert, bis ein passendes Organ gefunden wird. Dem gegenüber standen im vergangenen Jahr 797 Organspender, ein Tiefstand, den die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) meldete.
Das Thema ist seit Monaten auch in der Politik präsent, angestoßen durch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Bei der Orientierungsdebatte am 28. November wurde im Bundestag über eine mögliche Neuauslegung des Spendersystems diskutiert. Zurzeit ist eine aktive Zustimmung zur Organspende erforderlich: Entweder wurde diese zu Lebzeiten dokumentiert oder die engsten Angehörigen treffen sie im Falle des Todes.
Spahn bringt eine Variante ins Spiel, die in vielen europäischen Nachbarländern bereits Praxis ist: die Widerspruchslösung. Hier sollen die Menschen, die zu Lebzeiten der Organspende nicht widersprechen, automatisch zu Spendern werden, es sei denn, ihre Angehörigen lehnen eine Organspende ab. Als Vorbild dient vor allem Spanien, das mit viermal so viel Organspenden pro Million Einwohner im Vergleich zu Deutschland die Spitzenposition innerhalb von Europa einnimmt.
In der Debatte ohne Fraktionszwang wurde schnell klar, wie individuell das Thema zu betrachten ist. Parteiübergreifend wurde für und gegen Spahns Vorschlag argumentiert. Katja Kipping, Annalena Baerbock und andere stellten das Gegenkonzept der verpflichtenden Entscheidung vor: Die Bürgerinnen und Bürger sollen bei Beantragung des Personalausweises oder bei Hausarztbesuchen befragt werden, ob sie im Todesfall ihre Organe spenden möchten. Ihre Entscheidung – auch ein „weiß nicht“ ist möglich – soll in einem zentralen Spendenregister festgehalten werden.
Nadia Primc, Medizinethikerin in Heidelberg, steht der Widerspruchslösung skeptisch gegenüber: „Dass in den Entnahmekrankenhäusern zu wenig potentielle Spender erkannt werden, wird auch die Widerspruchslösung nicht ändern.“ Sie erklärt, dass in Spanien vor allem die verbesserte Organisation in den Kliniken zu höheren Spenderraten führte. Zudem sei der Vergleich mit Spanien prinzipiell kritisch zu betrachten. Auch Patienten mit Herzstillstand kommen dort für Organspenden infrage, in Deutschland ist dies jedoch verboten. „Wir können die Spenderrate von Spanien nicht erreichen“, betont Primc.
Eine aktuelle Studie, erhoben durch Transplantationsbeauftragte des Uniklinikums Jena, der Helios Klinik in Erfurt und der DSO, weist darauf hin, dass sich die Zahl der Organspender in den Entnahmekliniken tatsächlich relevant erhöhen ließe. Die Ärzte schlagen vor, die Abläufe bei der Therapie von hirngeschädigten Patienten zu optimieren und verstärkt Spezialisten hinzuzuziehen.
Mit einem Gesetz, das Ende Oktober vom Bundestag verabschiedet wurde, werden strukturelle Defizite in den Entnahmekrankenhäusern angegangen. Seit 2012 muss jedes Krankenhaus mit Intensivstation einen Transplantationsbeauftragten benennen, der die Organentnahme koordiniert und als zentrale Ansprechperson für Angehörige und DSO dient. In die eigentliche Transplantation ist dieser nicht involviert.
Nun soll die Stellung der speziell ausgebildeten Ärzte gestärkt werden: Unter anderem sollen sie verpflichtend freigestellt werden und einfacher an alle Informationen zu potentiellen Spendern gelangen. Sebastian Weiterer, koordinierender Transplantationsbeauftragter des Uniklinikums Heidelberg, begrüßt das Gesetzespaket, mit dem die Entnahmekrankenhäuser auch finanziell besser abgesichert werden.
Dass das Gesetz an der Situation in Heidelberg viel verändert, glaubt Weiterer allerdings nicht: „Wir machen hier schon viel mehr, als gesetzlich festgelegt ist.“ In Heidelberg gibt es ein dezentrales System, bei dem elf Transplantationsbeauftragte für die räumlich getrennten Intensivstationen der verschiedenen Kliniken in Heidelberg verantwortlich sind. Jedem der Ärzte ist zudem eine für den Kontakt mit Angehörigen geschulte Pflegekraft zugeteilt. Dass das dezentrale System in Heidelberg zwangsläufig zu mehr Spenden führen müsse, sieht Weiterer kritisch, da noch viel mehr Faktoren ins Spiel kämen. Doch seien die Abläufe und Kommunikation zwischen den Stationen und mit der DSO deutlich verbessert worden.
In Rücksprache mit der DSO werden verfügbare Organe an Eurotransplant gemeldet. Die Stiftung ist für die Zuteilung von Spenderorganen in acht europäischen Ländern zuständig. Durch den Zusammenschluss und die daraus resultierende Vielzahl von Patienten auf der Warteliste wird für jedes Organ ein möglichst guter Treffer ermittelt. 2017 erreichte Deutschland die Mindestzahl von zehn Spendern pro Million Einwohner nicht. Das ist eigentlich eine Grundvorrausetzung, um dem länderübergreifenden Zusammenschluss beizutreten. Zusätzlich wurden 165 Organe mehr angenommen als an andere Länder abgegeben – ein Zustand, der sich nicht dauerhaft rechtfertigen lässt.
Einigen Politikern, so wie Wolfgang Kubicki von der FDP, ist auch die verpflichtende Entscheidungslösung zu drastisch, aus Angst, einen Legitimationsdruck für das Ablehnen der Organspende zu erzeugen. Seiner Meinung nach ist der richtige Weg für Deutschland, mehr Aufklärung und Werbung für die Organspende zu betreiben.
Der Aufklärung hat sich auch der „Arbeitskreis Organspende“ verschrieben. Die studentische Initiative, unterstützt durch die Fachschaft Medizin, wurde 2015 gegründet. Inzwischen sind über 100 Studierende aktiv. Die ehrenamtlichen Mitglieder organisieren eine Vortragsreihe, Gespräche auf dem Weihnachtsmarkt und vor allem Schulbesuche. Damit möchten sie auf das Thema aufmerksam machen und neutral berichten. „Mir ist egal, was die Leute in ihrem Organspendeausweis ankreuzen – ich möchte nur, dass sie Bescheid wissen, worum es geht“, betont Anna-Sophia Rösch, Leiterin des Arbeitskreises. Mehr als 40 Schulklassen der Oberstufen in und im Umkreis von Heidelberg erfuhren so im letzten Jahr mehr über den konkreten Ablauf von Organspenden, Hirntod und die Hirntoddiagnostik sowie ethische Aspekte der Organspende.
Die Infobroschüren der Krankenkassen, die seit 2012 zu Aufklärung und Information gesetzlich verpflichtet sind, reichen als Aufklärungs- und Werbemaßnahme nicht aus. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung besitzen lediglich 36 Prozent der Bürgerinnen und Bürger einen Organspendeausweis. Noch drastischer erscheint der Fakt, dass sich knapp die Hälfte der Befragten nicht gut oder schlecht über das Thema informiert fühlt. Die Mehrzahl der Deutschen hat ihre Entscheidung für oder gegen eine Organspende nicht dokumentiert oder schlichtweg nicht getroffen. Welcher der zurzeit diskutierten Ansätze kann den Missstand wohl am besten beheben? Widerspruch, verpflichtende Entscheidung, noch mehr Aufklärungsarbeit? „Jede Lösung, die es uns ermöglicht, besser herauszufinden, was die Patienten wollen, ist gut“, findet Weiterer. „Am einfachsten wäre es zunächst, wenn jeder einen Organspendeausweis hätte.“
2018 sind die Zahlen wieder gestiegen mit inzwischen mehr als zehn Spender pro Million Einwohner. Dass allen Wartenden eine Organspende ermöglicht wird, ist jedoch vorerst nicht abzusehen.
Aber nicht nur die 10 000 Patienten auf der Warteliste und die im Verhältnis dazu seltenen Organspenden machen eine Meinungsbildung des Einzelnen erforderlich. Denn die Entscheidung verschwindet nicht im Falle des Todes: Sie wird auf die Angehörigen übertragen. So sollte man auch ihnen zuliebe die eigenen Wünsche niederschreiben.
Von Susanne Ibing