Das Nationaltheater Mannheim bringt Claudio Monteverdis „Marienvesper“ in einer szenischen Aufführung. Die Musizierenden rund um Jörg Halubek und sein Barockorchester „il Gusto Barocco“ bezaubern, der Gesang ist durch die Bank exzellent. Da stört selbst die erratische Inszenierung nur wenig.
[dropcap]S[/dropcap]chluss, aus, reicht. Nach fünf Stunden Wagner ist selbst der erfahrenste Opernbesucher einigermaßen erschöpft. Kein Wunder, dass der Schlussakkord für viele Besucher die Gelegenheit ist, sich der angestauten Müdigkeit zu entledigen und den Beginn ihres mehrminütigen Klatschmarathons noch passgenau in die letzten Töne hineinzuplatzieren. Eigentlich. Denn spätestens seit der Premiere der „Marienvesper“ am 15. Dezember dieses Jahres wissen wir: Es kann auch ganz anders laufen. Das letzte „Amen“ des „Magnificat“ klingt im Raum, hallt, verhallt. Schließlich tönt es nur noch in den Ohren und Köpfen der Zuschauer. Niemand bewegt sich, niemand macht einen Mucks – auf der Bühne wie im Zuschauerraum. Der Moment wird zur Ewigkeit, jeder will die atemberaubende Schönheit bis zuletzt genießen. So geht es einige, schließlich zehn, zwanzig, dreißig Sekunden. Dann, mit einem Schlag gehen, sämtliche Lichter im Saal aus. Der Augenblick ist vorbei. Und die Menge beginnt zu applaudieren.
Es ist ein „goldener Moment“ im Nationaltheater. Ein Moment, der zuerst der Musik Monteverdis zuzusprechen ist. Die „Marienvesper“ ist ebenso ein Klang- wie Stilspektakel. Monteverdi verbindet in ihr die musikalischen Möglichkeiten seiner Zeit: Dichter, vielstimmiger Chorgesang steht solistischem, virtuosem Einzelgesang gegenüber, dem nur noch ein schmaler Generalbass als Begleitung dient. In beiden Fällen ist der Klang berückend, bezaubernd, erschütternd. Das liegt einerseits an Monteverdis Rezept. Ein ebenso großes Kompliment ist aber seinen musikalischen Köchen, den Musikern und Musikerinnen des Stuttgarter Barockensembles „il Gusto Barocco“ unter ihrem Leiter Jörg Halubek zu machen. Sie begleiten die Singenden stets präzise und fein, strukturieren ohne zu übertönen. Dabei bleibt es natürlich nicht: Das imposante L’Orfeo-Zitat der Ouvertüre kommt rein, klar und majestätisch. Im immer wieder gespielten Ritornell der „Sonata sopra Sancta Maria“ steigern sich die Musiker von Mal zu Mal in immer verspieltere, abenteuerlichere, technisch und musikalisch schlichtweg atemberaubende Improvisationen. Halubeks Instrumentalisierung schließlich ist eine musikdramaturgische Meisterleistung: Indem er die alten Instrumente und ihre häufig ungewöhnlichen Charaktere in ganz unterschiedlichen Kombinationen spielen lässt, schafft er immer wieder neue, szenisch aufs Höchste verdichtete Klangwelten. Die überlieferten Drucke Monteverdis stellen meist „nur“ eine Melodiestimme und einen skizzierten Bass bereit – was Halubek und sein Ensemble daraus machen, ist handwerklich astrein und künstlerisch durch und durch großartig.
Das Niveau der Singenden überzeugt durch die Bank. Ganz besonders die Sopranistin Amelia Scicolone bezaubert mit einer wunderbar warm, kernig und flexibel geführten Stimme. Dagegen wirkt der Ton ihrer „Pulchra es“-Partnerin Nikola Hillebrand schon eine Spur zu scharf – was an dieser Stelle allerdings mehr für Scicolone als gegen Hillebrand spricht.
Zur magischen Stimmung des Abends trägt auch das Bühnenbild von Anna-Sofia Kirsch bei. Es ist weit in den Zuschauerraum hinein vorgerückt und bildet aus gelbem Holz und Bauplanken die Form einer Kirche nach. In der Mitte sitzt das Orchester in einer leichten Vertiefung, während die übrigen Beteiligten rund um die Musizierenden agieren. Ganz hinten, im normalen Bühnenkasten verjüngt sich die Bühne und wächst gen Himmel, während die vorderen Seitenlogen des Zuschauerraums als Seitenemporen der nachgebauten Kirche dienen. Mit dem geschickten Lichtspiel (Nicole Berry) entsteht eine intime, vertraute Atmosphäre, die den warmen und weichen Klang der Barockinstrumente ebenso wie die grundsätzliche Stimmung dieser „Marienvesper“ unaufgeregt schön in Szene setzt. Sonst wirkt die Inszenierung von Calixto Bieito ein wenig erratisch: Die Sänger schwirren als Jesusimitat, als Wahnsinniger, als abgedrehte Mischung aus schwarztalarigem Lehrer und abgestürztem Racheengel mit zerfleddertem Flügel über die Bühne. Das Ganze folgt keiner eigentlichen Handlung, wie bei der handlungslosen „Marienvesper“ auch nicht anders zu erwarten. Stattdessen kreist die Inszenierung um die verschiedenen Facetten des Maria-Mythos: Maria als Mutter, als Jungfrau, Heilige, als begehrte und begehrende Frau. Diese Assoziationssplitter reichert Bieito mit Eindrücken und Figuren seines Aufwachsens in einem kleinen katalanischen Dorf an. Das ist in Ordnung und stört nicht sonderlich – nötig gewesen wäre es freilich nicht. Denn am schönsten wird es an diesem Abend, wenn man die Augen schließt, die bezaubernde und bezaubernd gespielte Musik durch sich hindurchfließen und seinen ganz persönlichen Assoziationsstrom mittanzen lässt.
Von Jakob Bauer