Auf politischer Ebene sind Deutschland und Frankreich enge Partner. Doch im Alltag zeigen sich häufig Risse – auch in der Grenzregion um Nancy, wie unsere Autorin feststellte
[dropcap]A[/dropcap]m Volkstrauertag im November 2018 hielt Emmanuel Macron eine Rede im deutschen Bundestag, ein Symbol für die Verbundenheit der Nachbarländer. Macron betonte, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Frankreich und Deutschland stärker seien als deren Unterschiede. Diese Verbundenheit ist für Europa von entscheidender Bedeutung und sie besteht seit 1963 durch den Elysée-Vertrag sogar ganz offiziell. Das Abkommen wird auch als deutsch-französischer Freundschaftsvertrag bezeichnet und wurde am 22. Januar dieses Jahres durch den Aachener Vertrag erneuert und ausgeweitet. Um von einer Freundschaft zwischen den Ländern sprechen zu können, darf diese jedoch nicht lediglich auf dem Papier bestehen, sondern muss sich in der Gesellschaft widerspiegeln. Doch wie weit reicht die Freundschaft zwischen den Bewohnern?
In Nancy, einer französischen Stadt nicht weit von der deutschen Grenze entfernt, könnte man von einer guten Beziehung zu den nahen Nachbarn eigentlich ausgehen. Ein Wochenendausflug in das Nachbarland ist einfach umzusetzen, Möglichkeiten die Kultur und Sprache der Nachbarn kennenzulernen, gibt es zahlreiche: Durch das AbiBac können Schülerinnen und Schüler einen Doppelabschluss absolvieren, bei dem sie nicht nur viel über Deutschland und dessen Sprache lernen, sondern auch ein Studium oder das Finden einer Arbeit in Deutschland erleichtert wird. Auch das Goethe-Institut und das deutsch-französische Jugendwerk bieten deutsch-französische Veranstaltungen an. Der deutsch-französische Campus der gesellschaftspolitischen Grande école SciencePo in Nancy ist ein weiteres Beispiel für die existierenden Möglichkeiten.
Durch die Annexion von Elsass-Lothringen wurde Nancy zur Grenzstadt und beliebt für Franzosen aus diesem Gebiet, die die französische Staatsbürgerschaft der deutschen vorzogen. Eigentlich sollte diese geografische Nähe zu Kenntnissen über das Nachbarland führen. „Über die Geschichte Deutschlands lernt man natürlich in der Schule, über die Politik und Kultur Deutschlands spricht man jedoch selten“, meint Thomas, der ein Lycée – eine mit einem Gymnasium vergleichbare Schule – in Nancy besucht. „Und wenn doch über die Politik gesprochen wird, dann über die Abneigung gegenüber der Flüchtlingspolitik Merkels, aber hier sind ja auch alle gegen Macron.“
Auch eine Deutschlektorin in Nancy meint, dass das vermutete Interesse am Nachbarn durch die geografische Lage nicht automatisch gegeben sei, „dafür sind im Gegenteil immer wieder Interventionen und Bewusstmachungsvorgänge nötig. In beinahe jeder Familie kann zudem eine sehr unbequeme Geschichte zu den Deutschen erzählt werden“, fährt sie fort. Außerdem würden sich zwar viele Schülerinnen und Schüler entscheiden, Deutsch zu lernen. Dies beruhe aber auf beruflichen Perspektiven, die in der Grenzregion mit Deutschkenntnissen gesteigert würden und die „Stereotype über das Deutsche als Elitensprache […] halten sich hartnäckig“. Anne Grüneklee, Französin und Französischlehrerin an einem deutschen Gymnasium ist hingegen der Meinung, dass die Beziehung zwischen den beiden Nachbarländern momentan gut sei, „sogar eine Liebe für Frankreich kann man sehen“. Sie schlägt jedoch vor, in den Schulen regelmäßig Austausche anzubieten. „Eine Korrespondenz ist durch die Möglichkeit, das Internet zu nutzen, erleichtert worden.“ Um die Beziehung zwischen Deutschen und Franzosen zu stärken, müsse die Möglichkeit bestehen, die jeweils andere Sprache früher zu erlernen. „Grundschulen sollten Französisch – wie Englisch – als erste Fremdsprache zur Verfügung stellen und bilinguale Angebote sollten ausgebaut werden.“ Trotz dieser Verbesserungsmöglichkeiten empfindet sie die französisch-deutsche Freundschaft sehr viel stärker als früher. Auch die Deutschlektorin in Nancy mache „im Alltag meist positive Erfahrungen, wenn es um meinen Hintergrund geht, die positiven Stereotype scheinen zu überwiegen – dass sie allerdings bestehen, ist eigentlich ein Ärgernis“.
Trotz Revolte gegen die politische Ausrichtung, Verbesserungsbedarf beim Spracherwerb und größtenteils feindlichen Geschichten hat die Bezeichnung einer Freundschaft im Elysée-Vertrag somit durchaus ihre Berechtigung. In Nancy wurde in einer Vorlesung von dem „couple franco-allemand“, dem deutsch-französischen Paar, gesprochen und in Nancy kann fast jeder einige Sätze Deutsch sprechen. Trotzdem haben die Wenigsten schon mal von Heidelberg gehört, obwohl die beiden Städte nur 270 Kilometer auseinander liegen.
Von Lina Rees