Seit mehreren Jahren steht Helena* Modell im Aktzeichenkurs der Uni Heidelberg. Für sie gibt es einen Unterschied zwischen Nacktheit und Erotik
Sie ist 23, hat zuerst Medizin studiert, jetzt Physik, sie zeichnet gern und legt Wert auf Freundschaft. Und sie zieht sich regelmäßig für eine Gruppe Amateur-Künstler aus. Helena ist eines der Modelle des Aktzeichenkurses, den die Universität Heidelberg jedes Semester anbietet. Ihr ehemaliger Kunstlehrer in der Schule brachte sie auf die Idee, später einmal in Aktzeichenkursen Modell zu stehen. Der Gedanke, „Muse“ zu sein und dabei noch die Vorzüge eines guten Verdienstes und flexibler Zeiteinteilung zu genießen, reizten sie.
Helena erzählt mir von ihrem „ersten Mal“: „Ich habe versucht, mich auf die Musik zu konzentrieren“, sagt sie, „Das erste Mal Modellstehen empfand ich als schmerzhaft, weil mir Positionen gegeben wurden, die schon nach wenigen Minuten extrem anstrengend waren. Ich war damit beschäftigt, diese zu halten, ohne komplett zu verkrampfen.“ Mittlerweile arbeitet sie seit mehreren Jahren in verschiedenen Kursen als Modell und schlägt ihre Positionen selbst vor. Der Job ist mehr für sie, als eine Möglichkeit, an Geld zu kommen.
Sie findet, dass es in unserer Gesellschaft zu viele Tabuthemen gibt. „Mit Nacktheit, gerade außerhalb des sexuellen Rahmens, sollte weniger verkrampft umgegangen werden“, meint sie. Dass viele Paare – die wohlgemerkt ein Sexleben haben – laut einer Studie nicht genau wissen, wie ihr jeweiliger Partner nackt aussieht, ist für sie schockierend. Jenes Sexualleben steht für Helena in keinerlei Zusammenhang zum Modellstehen, auch wenn ihr einige ihrer Bekannten aufgrund ihrer Arbeit direkt ein ausschweifendes Sexleben attestierten.
In ihrer Verwandtschaft weiß nur ihre Mutter um ihren Job, denn Helena stammt aus einer konservativen Familie. Vor Kommilitonen und Kommilitoninnen macht sie jedoch kein Geheimnis daraus, und auch ihre Freundinnen wissen alle davon. Sie bewundern Helena für ihren Mut, ihr Selbstbewusstsein und ihre Aufgeschlossenheit. Bei manchen weckt das Erzählte auch die Neugier, es selbst einmal zu probieren. Männliche Reaktionen sind dagegen etwas anders. Diese lauten nämlich laut Helena grundsätzlich: „Wie – nackt?“, „Ganz nackt?“, „Sind da auch Männer?“ Von uns Kommilitonen und Kommilitoninnen zum Zeichenobjekt „verdinglicht“ zu werden, ist für Helena interessant zu beobachten. „Ja, der Job ist ein einsamer Job. Oft wird man nicht einmal als Mensch gesehen“, meint sie. Auch ich bemerke, dass in der Pause oder nach dem Kurs kaum jemand mit ihr spricht.
Doch für Helena ist das in Ordnung: „Es gehört dazu.“ Etwas, das sie als sehr respektlos empfindet, ist allerdings, wenn Studierende zu spät kommen, sodass die Tür mitten in der Sitzung offensteht und Vorbeigehende sie sehen können. Stimmt, das passiert tatsächlich häufig – dann kommt unser Zeichenlehrer Clapeko ins Spiel und macht eine Ansage. Clapeko van der Heide ist selbst bildender Künstler. Er stellt regelmäßig aus und hat schon diverse öffentliche Gebäude gestaltet. An der Kunsthistorischen Fakultät der Universität Heidelberg lehrt er bereits seit 1992. Aus seiner Sicht kompensiert die Uni mit dem Aktzeichenkurs das Fehlen einer Kunstakademie in Heidelberg. Obwohl es ihm in diesem Kurs nicht möglich ist, ins Detail zu gehen, erachtet der Künstler ihn als durchaus sinnvoll für Kunstgeschichtsstudierende.
Diese sind übrigens nicht die Einzigen, die sich für den Kurs interessieren. Auch bei Fachfremden ist er sehr beliebt. Clapeko weiß genau, was er von uns will: „Es geht nicht um eine schöne Zeichnung, es geht immer um eine gute Zeichnung!“. Und was dieses „gut“ ist, versuchen wir herauszufinden. „Virtuosität, Freiheit, Experiment“, fasst Clapeko seine Maximen zusammen. Beide, Clapeko und Helena, sind sich einig, dass es „einen gravierenden Unterschied zwischen ‚nackig‘ und ‚nackig‘“ gibt, wie Clapeko es formuliert. Das Eine bedeutet nackt sein, auch im übertragenen Sinne. Das Andere bedeutet schlicht und einfach, nicht bekleidet zu sein. Daher seien Zeichenkurse auch kein geeignetes Milieu für Voyeuristen. Für diese seien diese Kurse uninteressant, gar langweilig. Die Räume seien ja sehr „technisch“. Helena betont: „Nacktsein hat für mich erstmal nichts mit Erotik zu tun.“
Clapeko erzählt mir, dass es durchaus viele Nacktmodelle gibt, die sich ausschließlich mit Zeichenkursen ihren Lebensunterhalt verdienen. Auf die Frage, was sie davon hält, antwortet Helena: „Für mich wäre das nichts, weil ich später gerne einen Beruf haben möchte, bei dem ich aktiv etwas schaffen kann“.
*Name geändert
Von Lara Stöckle
Sehr schöner Artikel und Bericht über ein Aktmodell. Kann ich als eines der wenigen hauptberuflichen Aktmodelle Deutschlands nur unterschrieben. Nächstes Jahr mache ich das insgesamt 30 Jahre und noch immer wird dem Modell ein „offenherziges Wesen“ attestiert.
Dass das Modell später einen Beruf haben möchte, der aktiv etwas Geschaffenes hervorbringt, verstehe ich. Ich mache das Modellstehen hauptberuflich, weil ich nicht wirklich so materiell bin. Ich freue mich ungemein, wenn jemand (auch durch mich) Freude an der Kunst hat oder bekommt und am „Durchbeissen“, um einen menschlichen Körper zu verstehen. Die Freude der Anwesenden, regelrecht „im Flow“ zu sein, der bezahlte Sport und die bezahlte Ruhe können leider jeglichem anderen Job nicht das Wasser reichen. Und ich habe 2 verschiedenen Studienanschlüsse, einen anderen Ausbildungsberuf und in viele andere Bereiche reingeschnuppert.