Neurobiologin Hannah Monyer über Gehirn, Gedächtnis und Vergessen
Hannah Monyer, geboren 1957, ist ärztliche Direktorin der Abteilung für klinische Neurobiologie des Universitätsklinikums Heidelberg. Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes am Bande sowie des Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preises sprach mit dem ruprecht über ihr und Martin Gessmanns Buch „Das geniale Gedächtnis“.
Woran forschen Sie derzeit schwerpunktmäßig?
Unser Labor interessiert, wie tausende von Zellen auf die Millisekunde genau aktiv sind. Nehmen wir nur die Sehregion. Dort gibt es Zellen, die Farbe erkennen und immer dann „feuern“, also aktiv sind, wenn man etwas Buntes sieht. Es gibt andere Zellen, die bei einer anderen Farbe feuern oder nur bei Bewegung. So nehmen wir die Welt wahr – so nehmen wir ein Objekt wahr, das sich bewegt. Damit sich in meinem visuellen Kortex zum Beispiel die Repräsentation einer Brille bilden kann, müssen diese hunderten von Zellen die unterschiedlichen Eigenschaften erkennen und kodieren. Sie müssen auf die Millisekunde genau aktiv sein, damit die Repräsentation sich bilden kann.
In Ihrem Buch geht es des Öfteren darum, dass das Gehirn sich anpasst. Wenn das Gedächtnis durch moderne Technologien wie Wikipedia von manchen Aufgaben entlastet wird, entsteht Platz für andere Dinge. Wie stehen Sie dazu?
Ganz generell ist es sicher nicht falsch. Was aber ganz eindeutig gesagt werden muss: Es gibt weite Bereiche, in denen es sehr sinnvoll ist, sich Dinge zu merken. Wenn man eine Sprache lernt, muss man weiterhin auswendig lernen. Dass wir gar nicht mehr auf Landkarten schauen, finde ich eine Verarmung. Diese Diskussion über moderne Medien hat es aber immer schon gegeben. Als im 16. Jahrhundert vermehrt Bücher gedruckt wurden, hat man in manchen Kreisen darauf hingewiesen, wie schädlich das Lesen sei. Im 20. Jahrhundert nahm man an, dass das Fernsehen für Kinder schrecklich wäre. Heute weiß man, dass es nicht prinzipiell schlecht ist.
Was mich mehr bedrückt und in meiner Befindlichkeit tagtäglich stört, ist, dass sich durch diese modernen Medien auch die Geschwindigkeit geändert hat. Seitdem wir E-Mails haben, ist die Korrespondenz sehr viel schneller geworden – wir Menschen sind aber nicht schneller geworden. Wenn ich morgens 50 bis 70 Mails habe, muss ich die ja irgendwie bearbeiten, und es gehen auch immer wieder welche unter. Das ist wirklich ein Problem.
Man weiß aus der Hirnforschung auch, wie sehr Gedächtnisleistungen zurückgehen, wenn man beim Durchführen einer Tätigkeit gleichzeitig Musik hört oder etwas anderes tut. Es ist auch sehr interessant, wie lange es braucht, bis so etwas Eingang in unsere Schulen findet und bis der „normale“ Mensch richtig informiert ist. Jedoch gibt es seit Jahrzehnten Studien mit Messungen davon, wie die Aktivität in einer Hirnregion die in einer anderen Hirnregion beeinflusst.
Man weiß auch, wie nachhaltig etwas ist, je nachdem, ob man etwas gelernt und danach eine Pause gemacht hat oder ob man danach gleich etwas anderes hört. Aus Sicht der Hirnforschung braucht es Arbeitshygiene – man kann sehr deutlich erklären, dass es viel sinnvoller wäre, etwas zu lernen und dann eine Pause zu machen, anstatt sich von Musik oder sonst etwas berieseln zu lassen.
Finden Sie, dass Forschung in der Öffentlichkeit mehr Raum bekommen sollte?
Ja, generell bin ich dieser Meinung. Wir leben in einer Zeit, in der jeder glaubt, über Forschung mitreden zu können – sei es über Stammzellen, sei es über genetische Techniken. Die meisten wissen aber gar nicht, was eine Stammzelle ist. Die Thematik ist auch so fortgeschritten, dass es schwierig ist, sie einem normalen Menschen beizubringen.
Die meisten von uns verstehen die Relativitätstheorie nicht; sie verstehen diese Formeln nicht. Sie können vielleicht intuitiv verstehen, was gemeint wird, wenn sie ein Buch lesen. Das Gleiche gilt für die Biologie. Ich finde, dass es unsere Pflicht ist, die Dinge verständlich zu erklären.
Ihr Buch „Das geniale Gedächtnis“ haben Sie zusammen mit dem Philosophen Martin Gessmann geschrieben – einem Vertreter eines ganz anderen Feldes. Wie lief die Kommunikation zwischen Ihnen ab?
Wir hatten im Marsilius-Kolleg zusammen an einem Aufsatz gearbeitet und uns die Dinge gegenseitig erklärt. Man muss sich schon deutlich ausdrücken und eine gemeinsame Basis finden. Es hat mir aber sehr viel Spaß gemacht, und wir überlegen jetzt, ein weiteres Buch zu schreiben: eines über das Vergessen. Dies ist ein sehr spannendes Thema.
Das Vergessen setzt ein, sobald man lernt. Es findet schon in Fliegen und Würmern statt – und die Frage ist, welchem Zweck es dient. Es ist auch nicht einfach ein umgekehrter Lernprozess, da andere molekulare Kaskaden dafür zuständig sind. Ich kann es mir sehr gut vorstellen, dass wir darüber unser nächstes Buch schreiben werden.
Manche Bücher für ein breites Publikum werden von Spezialisten kritisiert.
Nun ja, man kann falsch vereinfachen oder einfach nur vereinfachen. Ich glaube, dass diese Bücher von genau denjenigen geschrieben werden müssen, die in ihren Fächern an vorderster Front sind und die Komplexität genau erfassen. Es ist viel leichter, in seinem Jargon etwas für eine Zuhörerschaft zu schreiben, die sofort versteht, was man meint. Das Vereinfachen ist nicht das Problem – das Problem ist, dass es nicht falsch sein darf. Es gibt Menschen, die viele Bücher für ein breiteres Publikum schreiben, in ihrem Fach aber keine Spezialisten sind. Dabei kann es sehr leicht dazu kommen, dass etwas falsch vereinfacht wird. Es gibt aber nur ganz wenige, die sich nicht zu schade sind, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Wenn man dann solche öffentlichen Vorträge hält, sollte man sich darauf beschränken, dort zu vereinfachen, wo man selbst Experte ist. Wenn man also bei seinem Thema bleibt, können solche Fehler nicht passieren.
Kam es von Herrn Gessmann, von Ihnen oder von Ihnen beiden, dass sie so viel auf Filme und auch auf Science Fiction eingegangen sind?
Von uns beiden. Es gibt viele Filme, in denen Krankheit oder Vergessen thematisiert werden. Wir beide mögen Literatur, und ich sehe es als eine Ergänzung zu dem, was wir aus der Grundlagenforschung mitbringen. Ich finde es sehr spannend, sich solche Themen aus unterschiedlichen Perspektiven anzusehen.
Das Gespräch führte Carolina Hoffmann