Welchen Einfluss hat das Zeitbewusstsein der Mächtigen auf ihre politischen Entscheidungen? Dieser Frage widmete sich der Historiker Christopher Clark bei einem Vortrag im DAI.
Wir leben in einer Welt der Endzeitszenarien. Die Zukunft scheint erschöpft zu sein. Alle gesellschaftlichen und politischen Gewissheiten, die vor wenigen Jahren noch unumstößlich schienen – so zumindest die einhellige Beobachtung aller Zeitdiagnostiker – sind im Niedergang begriffen: Das Links/Rechts-Schema der Politik, die Vormacht des Westens, das Wohlstandsversprechen des Kapitalismus. Oder wie Greta Thunberg es an die Politiker dieser Welt gerichtet ausdrückte: „Euch gehen die Entschuldigungen und uns die Zeit aus!“
Dass das Zeitbewusstsein selbst eine Frage der Zeit ist, wird schnell klar, wenn man seinen Blick auf die Geschichte richtet. Der australische Historiker Christopher Clark hat dieses Phänomen erst kürzlich in seinem neu erschienenen Buch „Von Zeit und Macht“ beschrieben. So handelte der Vortrag, den Clark am Mittwochabend im Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) hielt, auch vornehmlich von der Verquickung von politischer Macht und historischem Zeitbewusstsein. Das Interesse an dem Thema jedenfalls scheint groß zu sein, denn der Vortragssaal im DAI war gerammelt voll. Dies könnte natürlich auch mit der Bekanntheit des Professors aus Cambridge zusammenhängen, den man in Deutschland vor allem für sein Buch „Die Schlafwandler“ und aus diversen Terra X-Dokumentationen kennt.
Dass sich der ausgewiesene Preußen-Kenner in seiner Analyse historischer Zeitvorstellungen vor allem auf die preußische Geschichte fokussierte, wird kaum überraschen. Wie auch in seinem Buch beschrieb er, wie vier verschiedene Machthaber der deutschen Geschichte ihre eigene Zeit interpretiert haben. Der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm von Brandenburg sah sich Mitte des 17. Jahrhunderts, nach Ende des 30-jährigen Krieges, an einer Zeitschwelle zwischen chaotischer Vergangenheit und unsicherer Zukunft stehen. Sein Reformprogramm, das er gegen den Widerstand der Landstände durchdrückte, war stets vom Streben nach einer strahlenden Zukunft getragen. Dementgegen war der Bezugspunkt Friedrichs des Großen im 18. Jahrhundert die Antike. Wie auch schon die Denker des Altertums interpretierte er den Verlauf der Geschichte zyklisch. Otto von Bismarck wiederum sah sich im 19. Jahrhundert als „Bootsmann im Strom Zeit“. Er glaubte, sein Boot – das natürlich Deutschland war – gleichsam als Getriebener sicher in die Zukunft steuern zu müssen. Die Nationalsozialisten schließlich waren sich sicher, für sie sei eine völlig neue Zeit angebrochen. Ihr Bezugspunkt war einerseits eine mythische „germanische“ Vergangenheit, an der sie sich orientierten. Andererseits glaubten sie an eine strahlende ferne Zukunft, für die sie kämpfen müssten.
All diese Zeitvorstellungen hatten natürlich Einfluss auf die politischen Entscheidungen, die getroffen wurden. Dasselbe gilt für heutige Politiker, die in einer Welt ohne Zukunft zu Getriebenen oder gar zu Predigern einer besseren Vergangenheit werden. Donald Trump tut nichts anderes, wenn er den jubelnden Massen „Make America Great Again“ zuruft. Die historische Analyse ist hier wie so oft nicht nur von akademischem Interesse. Sie hilft uns, unsere Zeit besser zu deuten und zu lesen, vielleicht sogar etwas gelassener zu sehen. Clark, der mit seinem fehlerfreien Deutsch ein fesselnder Redner ist, beweist dies eindrücklich. Denn wer einen Vortrag über ein derart anspruchsvolles Thema zwischendurch mit lustigen Bilder von Boris Johnson zu garnieren weiß, ohne dabei das Niveau zu verlieren, der ist wirklich ein Meister seiner Kunst.
Von Cornelius Goop