Stell dir vor, es jährt sich der Tod von Karl Jaspers zum 50. Mal und keiner geht hin. Karl wer? Nie gehört. Warte, das war doch irgendein… Schriftsteller? Im Zweifelsfall sind es immer Schriftsteller. Einst einer der einflussreichsten Intellektuellen Nachkriegsdeutschlands, löst er heute nicht mehr als ein fragendes Schulterzucken aus.
Das ist ungerechtfertigt. Der Philosoph Jaspers hat nicht nur gesellschaftspolitische Debatten geprägt, er hat uns auch mit einem Begriff beschenkt, den wir schleunigst von seiner Staubschicht befreien sollten: den der Grenzsituation. Eine Grenzsituation reißt uns aus der Herumdümpelei des Alltags und führt uns vor Augen, was es eigentlich heißt, ein Mensch zu sein. Klassischerweise sind das Tod, Schuld oder Leid. Keine Grenzsituation ist es, wenn im Supermarkt an einem Sommerabend das Bier aus ist.
Mit Blick auf das Hier und Jetzt zeigt sich, dass die Klimabewegung „Fridays for Future“ der jasperschen Grenzsituation so nah ist, wie die Zivilgesellschaft seit der Jahrtausendwende nicht mehr. Der Klimawandel konfrontiert uns mit unserer Sterblichkeit, unserer Unbedeutsamkeit und unserer unausweichlichen Verantwortung.
Schauen wir doch einmal, ob die Politik das inzwischen auch schon begriffen hat. AKK erklärte neulich, dass es für den Klimawandel intelligentere Lösungen als eine CO₂-Steuer gäbe, denn dahinter verstecke sich ja nichts weiter als eine stärkere Belastung für Benzin, Diesel, Öl und Gas. Nehmt das, ihr demonstrierenden Schüler! Mit der Forderung nach einer CO₂-Steuer würdet ihr ja tatsächlich fossile Brennstoffe teurer machen!
Der Klimawandel scheint für die Politik eindeutig keine Grenzsituation zu sein. Man kann fast den Eindruck gewinnen, er ist nicht mal eine Situation, geschweige denn ein Problem. Die Folgen des Klimawandels im globalen Süden? Wie, globaler Süden? Ach, Sie meinen Italien? Ja, was sollen wir sagen, das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.
Nach Jaspers bewältigt man Grenzsituationen, indem man offenen Auges in sie eintritt. Und das wäre doch tatsächlich mal was: Es ist Klimawandel und alle gehen hin.
Von Valerie Gleisner