Das Computerspiel „Anno 1800“ steht wegen seiner idealisierten Darstellung der Industriellen Revolution in der Kritik. Einblicke in eine Debatte, die längst auch die Wissenschaft erreicht hat
Ein Mausklick, ein wenig justieren, ein weiterer Klick und das Kontor steht. Die meist noch aus Kindertagen angenehm vertraute Tonfolge dringt ans Ohr und die Freude über eine neu besiedelte Insel breitet sich im Inneren aus. Bereits vor seiner Veröffentlichung ließ das Computerspiel „Anno 1800“, der neueste Teil aus der erfolgreichen Aufbaustrategiereihe, Fanherzen höherschlagen. Grund dazu bot vor allem, dass sich die Spielerschaft nicht mehr wie in den vergangenen beiden Teilen mit elendigen Zukunftsszenarien herumschlagen muss, sondern sich wieder in ein trautes historisches Setting vertiefen darf – die Industrielle Revolution.
Diese Rückbesinnung auf das Alte macht auch vor den Spielmechaniken nicht halt. So rückt „Anno 1800“ beispielsweise das Wetteifern mit anderen Parteien auf einer gemeinsamen Karte verstärkt in den Fokus – eine Qualität, mit der zuletzt „Anno 1404“ aufwartete. In Zusammenarbeit mit der Konkurrenz, etwa durch das Erfüllen von Aufträgen oder durch geschickt abgeschlossene Handelsverträge und Bündnisse, wird ein mächtiges Inselreich geschmiedet. Versagt die Diplomatie, werden auch gegen andere Interessen, im Zweifel mithilfe der Kriegsflotte, eigene Ambitionen durchgesetzt.
Alles in allem ein nostalgieträchtiges Fest, wäre da nicht ein Vorwurf, der sich seinen Weg sogar in das ein oder andere große Feuilleton gebahnt und eine Debatte über die Akkuratesse von Computerspielen mit historischem Setting entfacht hat. Kritiker sehen genau in dieser Nostalgie, dieser Heimeligkeit, dieser Vorstellung eines Früher, in dem die Konflikte noch schwarz-weiß und eindeutig zu lösen waren, das Problem. So reflektiere das Spiel nicht über seine Zeit und der Spieler dadurch nicht über seine kolonialistische und imperialistische Agenda. Tatsächlich wird die Sklaverei als Spielelement in „Anno 1800“ komplett ausgeblendet und blitzt nur in einigen Beschreibungstexten auf. Auch wird der Spieler nicht mit der Existenz indigener Kulturen konfrontiert. Bei der Gründung von Kolonien in der neuen Welt tritt die einheimische Bevölkerung lediglich als Produzent von Gütern in Erscheinung.
Kilian Schultes, Zuständiger für Neue Medien und Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg, begrüßt die Öffentlichkeit dieser Auseinandersetzung im Allgemeinen: „Die Diskussion im Feuilleton zu ‚Anno 1800‘ belegt zum einen den Stellenwert, den man Computerspielen inzwischen in der Kulturlandschaft zumisst, und zum anderen die höhere Sensibilität gegenüber Imperialismus und Kolonialismus auch in der Popkultur.“ Nichtsdestotrotz stehe bei Spielen das Vergnügen an erster Stelle und diesem sei zu viel Realismus abträglich. „Spiele müssen zuvorderst als Spiel funktionieren, das historische Setting gibt es obendrauf und drumherum“, bringt der Historiker es auf den Punkt. Ein Spiel pauschal wegen historischer Ungenauigkeit zu verurteilen ist folglich nicht möglich.
Zur Diskussion steht vielmehr die These, dass „Anno 1800“ durch seine Darstellungen ein falsches Geschichtsbild bei seinen Spielern etabliere. Die Frage nach den Auswirkungen von Computerspielen auf die Geschichtswahrnehmung ist allerdings auch in der Forschung strittig. Schultes unterscheidet grob zwischen zwei widerstreitenden Positionen: Narratologen untersuchen den Inhalt eines Spiels und prüfen zum Beispiel die Wirkung von Orientalismen auf die Vorstellungen des Spielers. Ludologen sehen hingegen im Siegeswillen das entscheidende Moment. Angespornt durch diesen dekonstruiert der Spieler das Setting und verhindert eine wirkliche Simulation.
Die Diskussion aus der Aporie befreien und ihr zu mehr Konstruktivität verhelfen, könnte ein dritter Ansatz. Dieser verlangt allerdings einen Blick weg von dem, was „Anno 1800“ unter den Tisch fallen lässt, hin zu dem, was es an neuen Mechaniken einführt. So können ganze Inseln zu Arbeiterkolonien erklärt werden, in denen die Bewohner zu unmenschlichem Schuften gezwungen werden. Aufkommende Proteste des Proletariats können mit wenigen Klicks blutig niedergeschlagen werden. „Auch Algorithmen sind keineswegs wertfrei. Im Spiel wären dies die Mechaniken, die für den Sieg sorgen“, räumt Schultes weiterführend ein. „Für die Reihe ‚Civilization‘ gilt beispielsweise, am leichtesten ist es zu siegen, wenn der Spieler die Regierungsform einer kapitalistischen Demokratie wählt – egal, als welche Zivilisation man startet.“ Es stellt sich also mehr die Frage danach, ob „Anno 1800“ die Spielweise als despotischer Bourgeois gegenüber der als arbeiterfreundlicher Souverän maßgeblich bevorzugt und belohnt und so eine Beeinflussung des Spielers entsteht, als die nach den Versäumnissen an historischer Akkuratesse.
Von Matthias Luxenburger