Wie wird man eigentlich Meerjungfrau und warum haben die meistens einen Sixpack? In Heidelbergs Hallenbädern verwandeln sich Menschen in Meeresbewohner
Meerjungfrauen toben mit Regenbogenfischen, flitzen durch farbenfrohe Seeanemonen und müssen keine Steuern zahlen. Unten im Meer muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Das studentische Dahinsiechen in der Bibliothek ist dagegen trostlos. Hier ist man nur ein Niemand in einem Schwarm von Fischköpfen, der zwischen Hausarbeiten und Klausuren treibt. Für einen Tag möchte Patrick frei sein. Er steht auf, schmettert sein Macbook an die Wand und verwandelt sich in eine Meerjungfrau.
Beim „Mermaiding“ wird jeder Landgänger für ein paar Stunden zur Nixe. Beide Füße werden in eine Flosse gesteckt, und dann eine schillernde Schwimmleggings darüber gestülpt. Die ist nicht nur für den Style gut, sondern sorgt auch dafür, dass das Wasser besser am Körper entlang gleitet. Durch rhythmische Bewegungen von Bauch, Beinen und Po beschleunigt man sehr stark – insbesondere Unterwasser. Obwohl das ganze nach Kindergarten klingt, gibt es eine professionelle Szene, bei der es ähnlich wie beim Eiskunstlaufen um Geschwindigkeit, Präzision und Manövrierfähigkeit geht.
Beim Meerjungfrauenschwimmen im Hallenbad Hasenleiser in Kirchheim ist die Zielgruppe jedoch genau das, was man als Laie erwartet: Kinder. Erwachsene dürfen zwar auch mitmachen, aber das macht in der Regel keiner. Mit 27 und leichtem Übergewicht ist Patrick hier also genau richtig. An diesem Tag sind alle bis auf einen Meeresbewohner weiblich und zwölf Jahre alt. Dementsprechend schwierig gestaltet sich auch bereits die Verwandlung in eine Meerjungfrau. Obwohl es Flossen für Erwachsene gibt, quetscht sich Patrick unter Schmerzen und argwöhnischen Blicken der anwesenden Mütter in seinen Meerjungfrauenschwanz. Jungs, oder viel eher erwachsene Männer, haben sie anscheinend nicht erwartet. Dass die enge Flosse Patricks erste Erfahrung mit BDSM wird, hat er wiederum nicht erwartet. Wenigstens die beiden Trainer freuen sich aber, dass sie nicht alleine eine Herde Kinder hüten müssen.
Nachdem der Schmerz etwas nachgelassen hat, geht es ins Wasser. Die ersten Schwimmversuche scheitern jedoch kläglich. Der Hüftschwung ist zu lasch, man kann nicht richtig tauchen und vorwärts kommt schon gar nicht. Unterwasser folgt jedes Mal ein Schock – die Beine sind festgezurrt und dadurch gelähmt – man kann sich nicht frei bewegen. Warum sollte man sich das freiwillig antun?
„Das ist mega gut für die Bauchmuskeln. Ich geh seitdem nicht mehr Pumpen“, sagt einer der Trainer. „Sobald man den Dreh raus hat, ist man außerdem auch sauschnell. Ich steh einfach auf Extremsport.“ Das klingt doch etwas zu enthusiastisch.
Seit diesem Jahr bietet die Stadt Heidelberg Meerjungfrauenschwimmen hauptsächlich als Kinderanimation an. Dabei geht es dann vor allem um den Spaß und weniger um den Sport.
Nach einer halben Stunde passt sich der Körper an die veränderte Situation an. Der Hüftstoß fällt leichter, die Kontrolle verbessert sich und der Schock lässt nach. Dadurch wird man immer schneller. Dopamin schießt in Patricks Schädel. Er will schneller, länger und tiefer tauchen. Die Trainer schmeißen Ringe und Meeresfrüchte aus Plastik in das Becken – Schätze, die die Meerjungfrauen aufheben sollen.
Im Wasser wird es wild. Jeder will die meisten Schätze sammeln, und zeigen, wer die beste Meerjungfrau ist. Noch nie hat es sich so gut angefühlt, einer Zehnjährigen einen Tintenfisch unter der Nase wegzuschnappen. Die Jagd nach Schätzen und der Geschwindigkeitsrausch setzen den Körper unter Strom. Erst nach 90 Minuten merkt Patrick, wie kaputt er ist. „Können wir noch einmal durch die Ringe tauchen?“, fragt ein Kind. „Können wir noch einmal?“, fragt Patrick. „Aber beeilt euch. Ich muss noch zum Motocross.“, sagt der Trainer. Vielleicht ist am Mermaiding doch mehr Extremsport dran als es auf den ersten Blick scheint.
von Patrick Müller